Was ist Material Data Management?

Wenn mich jemand etwas zu Material Data Management fragt, antworte ich immer erst mit der Gegenfrage, was mit „Material“ genau gemeint ist. Das ist vielleicht nicht die Antwort, die mein Gegenüber in diesem Moment erwartet, erspart uns beiden aber lange Minuten der Verwirrung und des aneinander Vorbeiredens. Der Grund: Material ist nicht gleich Material.

Zur Mehrdeutigkeit der Sprache

Als Franzose in Deutschland bin ich daran gewöhnt, dass Doppeldeutigkeit zu Missverständnissen führt. Manche Ausdrücke lassen sich von einer Sprache in die andere nicht eins zu eins übersetzen – zumindest nicht so, dass jedem auf Anhieb klar wird, was gemeint ist. Ein allgemein bekanntes Beispiel ist das Wort „Gemütlichkeit“. Den Begriff gibt es nur auf Deutsch. Tückischer sind aber die sogenannten falschen Freunde: Wortpaare wie „gift“ im Englischen und „Gift“ auf Deutsch. Sehen gleich aus, die Bedeutung unterscheidet sich aber grundlegend. Auch als erfahrener Polyglott ist man nicht davor geschützt. So können zum Beispiel meine französischen Gesprächspartner irritiert wirken, wenn ich sage, etwas hätte mich „irrité“ und damit meine, etwas hätte mich überrascht. Sie verstehen darunter jedoch, ich hätte vor lauter Verdruss irgendeinen Hautausschlag bekommen.

Was im Alltag zu lustigen und sogar mitunter leicht peinlichen Situationen führen kann, sorgt in der Arbeitswelt oft für Ineffizienz. Um Beispiele zu finden, müssen wir nicht mal im internationalen Kontext suchen: Auch innerhalb einer deutschsprachigen Organisation sprechen nicht unbedingt alle die gleiche Sprache. Schuld daran ist nicht die starke Ausprägung der Dialekte vielerorts, sondern die disziplinäre Ausprägung der Sprache: Personen mit unterschiedlicher Qualifikation beziehungsweise Expertise können unter demselben Wort unterschiedliche Dinge verstehen.

Und das bringt mich zu dem Thema dieses Beitrags. Genauer gesagt zum mehrsprachigen Geflecht und der interdisziplinären Mehrdeutigkeit des Worts „Material“, dessen galaktische Verwirrung rund um die Begrifflichkeit ich gerne auflösen möchte.

Material ist nicht gleich Material

In Unternehmenssoftware geht es viel um die Verwaltung von Materialien (Materials im Englischen) und deren Daten. Es gibt dafür tolle Lösungen. Sie heißen Materials Management oder Materials Data Management oder sogar Master Material Data Management. Die Bezeichnungen klingen sehr ähnlich und werden in der Praxis oft synonym verwendet. Dabei verweisen sie auf völlig verschiedene Dinge. Frei nach dem Motto „Material ist gleich Material“ wird übersehen, dass das Wort für unterschiedliche Disziplinen eine unterschiedliche Bedeutung haben kann und Sachen in einen Topf geschmissen werden, die wenig miteinander zu tun haben. Verwechslungen und Missverständnisse sind so vorprogrammiert.

Unterschiede innerhalb der Disziplinen

In der Produktionslogistik bzw. der Materialbedarfsplanung ist ein Material eine logistische Einheit, das heißt eine Ressource, die für irgendeinen wertschöpfenden Prozess benötigt wird. Waren, die man kaufen kann, wie zum Beispiel eine Schraube, ein Flansch, eine Spindel, ein Reifen und so weiter. Die Kunst, Materialien sinnvoll zu beschaffen, zu bewegen und zu lagern, wird im Deutschen als Materialwirtschaft und im Englischen als Materials Management benannt. 

Im Kontext der Produktentwicklung spielen Materialien in diesem Sinne keine Rolle. Die Entwicklung interessiert sich nicht für die Schaube und wo sie gelagert wird, sondern nur für ihre Beschreibung. Um es in der Sprache der Informationstechnik zu verdeutlichen: Die Entwicklung definiert Klassen, die Produktionslogistik verwaltet Instanzen dieser Klassen. Jedoch tritt das Konzept von Material auch hier wieder auf, denn im Sprachgebrauch werden Artikel, Teile und Baugruppen gerne als Materialien benannt. Der Grund dafür ist, dass sie an der Schnittstelle zwischen PLM und ERP zu Materialien im Sinne der Produktionslogistik werden. Hieraus entstehen irreführende Bezeichnungen wie Material Management oder Material Data Management. Richtiger wäre es hierbei, von Master Data Management im Sinne einer Teilestammverwaltung zu sprechen.

Im Engineering (inklusive Simulation) ist das Wort Material das Synonym für Werkstoff. Das ist naheliegend, ist die englische Übersetzung von Werkstoff doch Material und beschreibt hier die physische Komposition eines Objektes im Sinne der Materialwissenschaft beziehungsweise der Werkstofftechnik: Also, ob ein Objekt zum Beispiel aus Holz, PA66, Inconel oder GFK gefertigt wird. Die Verwaltung aller Informationen rund um Werkstoffe und ihrer Eigenschaften wird Werkstoffdatenmanagement (im Englischen Material Data Management) genannt. Verwirrenderweise steht das Akronym MDM auch für Master Data Management, was zur Schärfung der Begriffe nicht besonders zuträglich ist.

Unterschiedliche Disziplinen, unterschiedliche Bedeutungen des Wortes Material

Fazit

Die Verwirrung ist also groß. Abhilfe schaffen PLM-Lösungen, die auf die jeweiligen Disziplinen zugeschnitten sind. Sie bedienen die unterschiedlichen Anforderungen optimal und sorgen so insgesamt für bessere Zusammenarbeit. Mit einem Master Data Management als Kern-PDM-Funktion lassen sich alle Teilestammdatensätze konsistent halten und effizient verwalten. Ein modernes Material Data Management speichert alle Informationen zu Werkstoffen und dient als Referenz für den gesamten Produktentwicklungsprozess. Material Compliance unterstützt dabei, die qualitätsgeprüfte Lieferung regulierter Werkstoffe und Vorprodukte zu dokumentieren und stellt sicher, dass nur zugelassene Stoffe verarbeitet werden. Mit Schnittstellen zu ERP-Systemen machen digitale Materialien (im Sinne der Entwicklung) dann auch problemlos den Schritt in die physische Welt und werden zu Materialien im Sinne der Produktionslogistik.

Vom Beschreiben und Zeigen in der Produktentwicklung

„Ich merke, du verstehst nicht wirklich, wovon ich spreche. Warte mal, ich zeig’s dir“. Oft scheitert die Kommunikation daran, dass man gezwungen wird, Sachen zu beschreiben, statt sie zu zeigen. Weil sie entweder außer Reichweite sind oder weil sie schlichtweg nicht real existieren. Wie Produkte, die noch in der Entwicklung sind. Darum sind Designer:innen regelrechte Bastel-Expert:innen. Mit einer Produktidee im Kopf bauen sie schnell mit Pappe und Kleber einen Prototyp. So gelingt es ihnen, das zu zeigen, was sich schwer in Worte fassen lässt. Das genau brauchen effiziente Produktentwicklungsprozesse und das kann durch eine tiefere Integration von 3D-Visualisierungsfunktionen in das PLM-System erreicht werden.

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte

Der Mehrwert von Bildern gegenüber reinem Text ist für uns heutzutage in einer multimedialen Welt selbstverständlich. Auf Instagram und Co unterstreicht der Text nur noch das, was auf dem Bild bereits erfasst wurde. Doch wie viel von dieser Selbstverständlichkeit ist in den IT-Systemen, die die Arbeit von produzierenden Unternehmen unterstützen, angekommen? Meiner Beobachtung nach geht Beschreiben hier immer noch vor Zeigen: Auf den Bildschirmen finden sich mehrheitlich Zeichen, Worte, Tabellen und Sätze.

Dabei mangelt es seit der Verbreitung von CAD-Systemen vor allem in PLM-Anwendungen nicht an Bildern. Kaum ein Produkt wird hergestellt, bevor es nicht als (3D-)Bild vorher konstruiert ist. Das 3D-Modell ist ein selbstverständliches Instrument in der Produktentwicklung und in Zeiten steigender Produktindividualisierung ein ideales Werkzeug für die Kommunikation rum um das Produkt. Vom Stuhl bis zum Elektroauto: Branchenübergreifend lassen sich Produkte online individuell konfigurieren und in 3D ansehen, bevor sie bestellt und produziert werden.

Warum bleibt die Unternehmenssoftware noch so textlastig?

CAD-Software-Lizenzen sind teuer. Unternehmen statten daher oft nur wenige Arbeitsplätze damit aus. Hinzu kommt, dass CAD-Software als proprietäre Dateiformate sich nicht so ohne Weiteres von anderen Programmen öffnen lassen. So bleibt der Zugang zu 3D-Geometrien auf einen exklusiven Club beschränkt.

Überwindet man diese Hürde zum Beispiel mit neutralen 3D-Viewern, bleibt immer noch die Frage, wie sich 3D-Geometrie und Text mit den Bedienoberflächen (UI) von Unternehmenssoftware am besten kombinieren lassen? Jenseits der fantasiereichen Zukunftsvisionen rund um Datenhandling mit VR/AR à la Minority Report fehlt es in der Realität noch an Konzepten, Informationen aus 3D-Modellen und Datenbanken in einem einheitlichen Bedienmuster zu verbinden.

Wo geht die Reise hin?

Im ersten Schritt gilt es, 3D-Geometrien neben den bisherigen textuellen Inhalten in die UI zu bringen. Grundlegende Funktion ist neben dem Anzeigen und Drehen auch die Möglichkeit, in das Innere des Modells zu navigieren, um sich einzelne Komponenten durch selektives Ein- und Ausblenden detailliert anzuschauen. Hilfreich für eine zielführende Kommunikation im Team sind auch Funktionen wie das Eintragen, Speichern und Teilen von Anmerkungen am 3D-Modell. Zudem können zusätzliche Digital Mock Up– (DMU) Berechnungsfunktionen bestimmte Entscheidungsprozesse unterstützen. Wie zum Beispiel eine Nachbarschaftssuche, um die Auswirkungen einer technischen Änderung zu analysieren. Oder ein Modellvergleich, um nachträglich die Umfänge dieser Änderung nachzuvollziehen.

Im zweiten Schritt müssen geometrische und textuelle Informationen in der UI vereint werden. So entsteht eine integrierte Bedienoberfläche, die inhaltlich Mehrwert bietet. Wie wäre es zudem, wenn das 3D-Modell in PLM-Anwendungen nicht mehr als Illustration der Stückliste dient, sondern umgekehrt die Teilestammdaten die 3D-Geometrie anreichert? Oder Tabellen und textuelle Hyperlinks abgeschafft werden und eine räumliche Navigation zur Verfügung steht? Oder wenn Anwender:innen den Teilebestand wie in einem Lager visuell durchsuchen können, anstatt Nummern in einer Liste aufzuspüren? Oder, oder, oder.

Wir haben uns in der Informationstechnik so an die Arbeit mit Zeichenketten gewöhnt (ich denke dabei an Kommandozeilen, relationale Datenbanken, Hyperlinks und so weiter), dass andere Bedienmuster undenkbar erscheinen. Hier ist es an der Zeit umzudenken und die visuelle Kraft der 3D-Geometrie zu entfesseln, um schnell und präzise in Unternehmensprozessen zu kommunizieren.

In meinem Webcast am 7. Oktober 2021 erfahren Sie, wie Sie 3D-Visualisierungs- und Inspektionsfunktionalitäten für alle PLM-Anwender:innen über den gesamten Produktlebenszyklus zugänglich machen und eine nahtlose Integration von geometrischen und PLM-Daten gewährleisten – in einer Oberfläche, ohne zu teuren Standalone Viewern springen zu müssen.