Viel Lärm um Nichts

Von meiner letzten Reise in die USA habe ich ein tolles, neues Schlagwort mitgebracht: Servitization. Es beschreibt die beinahe kafkaeske Verwandlung von Produkten, die immer mehr eingebettete Software enthalten und über das Internet der Dinge miteinander kommunizieren, in hybride Produkt- und Serviceangebote. Im Extremfall kauft der Gebäudebetreiber keine Klimaanlage mehr, sondern zahlt für die Klimatisierung eines bestimmten Raumvolumens. Der Hersteller übernimmt die Verantwortung für die korrekte Auslegung der Klimatechnik und die Wartung der Anlage. Sie ist mit zig Sensoren ausgestattet und meldet Unmengen an Daten zurück, aus denen intelligente Software-Lösungen dann die Auffälligkeiten (z. Bsp. ein offenes Fenster) herausfiltern.

An diese Brave New World musste ich denken, als ich in meinem Appartementzimmer in New York morgens um 5 Uhr durch die ratternde Klimaanlage geweckt wurde. Genau genommen wurde ich nicht durch sie geweckt, sondern durch den Verkehrslärm auf der 3rd Avenue, der etwa ab dieser Uhrzeit die Klimaanlage übertönte. Wer New York kennt, kennt auch die etwas vorsintflutliche Gebäudetechnik: Die mehrfach verglasten Schiebefenster werden einfach hochgeschoben und fest arretiert, um die kastenförmigen Klimaanlagen einzubauen, womit zwar das Leben des Untermieters gesichert ist, nicht aber das eigene Überleben im Brandfall, weil der Zugang zur traditionellen Feuerleiter vor dem Fenster blockiert ist. Es sei denn, man schafft es, sich durch den engen Spalt rechts oder links des Geräts zu zwängen, der nur mit einer dünnen Plastikblende verschlossen ist. Schall- und Wärme-Isolierung gleich null.

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Alte und neue Fassaden in New York. Bild: Wendenburg

Vergeblich versuchte ich, den Kopf unter das Kopfkissen zu stecken und noch ein bisschen weiter zu schlafen. Mein unsanft aufgeweckter Geist suchte fieberhaft nach einer innovativen Lösung zur Senkung des Geräuschpegels. Kissen in die Aussparungen rechts und links neben der Klimaanlage zu knuffen, war weder besonders innovativ noch effektiv. Mir kam der Vortrag eines hochrangigen Airbus-Mitarbeiters über des Kabinenkonzept für das Jahr 2050 in den Sinn: Die komfortablen Sitze im Airbus der Zukunft sollen durch Gegenschallwellen von plärrenden Kindern und schnarchenden Nachbarn abgeschottet werden. Wenn man doch die amerikanischen Klimaanlagen mit Geräuschsensoren ausstatten und die Schallwellentäler des notorischen Brummens mit den Wellenbergen des Straßenlärms synchronisieren könnte? Das wäre wirklich mal eine Innovation, die diesen Namen verdient, mit schön viel Elektronik und eingebetteter Software.

Man könnte die Vision noch weiter spinnen und aus den Big Data sämtlicher New Yorker Klimaanlagen und ihren Positionsinformationen die Verkehrsdichte der jeweiligen Avenue berechnen, um die Verkehrströme in der Stadt besser zu lenken. Das Verkehrschaos in New York ist zu bestimmten Zeiten nämlich unbeschreiblich. Die Klimaanlage würde zum Herzen eines komplexen cyberphysischen Verkehrsleitsystems. Es darf nur keiner auf die Idee kommen, den Straßenbelag auszubessern, um den Geräuschpegel zu senken. Das würde die Berechnung total verfälschen.

Was ich eigentlich damit sagen will, ist dass die technischen Innovationen im allgemeinen und ganz besonders das Internet der Dinge mit einer gewissen Zwanghaftigkeit zur Entwicklung von immer komplexeren Systemen führt. Das mag zwar gut sein für die Hersteller von PLM- und Service Lifecycle Management-Systemen, die davon leben, diese Komplexität wieder beherrschbar zu machen. Aber manchmal fragt man sich wirklich, ob es unbedingt notwendig ist, auch noch die letzte Glühbirne mit Internet-IP und Wifi-Ersatz auszustatten, um sie über eine App in unserem Smartphone individuell ansteuern zu können? Auch ohne den ökologischen Fußabdruck mit PLM berechnet zu haben, bin ich mir ziemlich sicher, dass Entwicklung und Fertigung dieser smarten Produkte mehr Gehirnschmalz und Energie verbraucht haben als sie je in ihrem Lifecycle einsparen werden.

Homo informaticus hat ein quasi sado-masochistisches Verhältnis zur Komplexität. Wir jammern ständig darüber, dass alles immer komplexer wird, lassen uns aber wollüstig stöhnend von Complexitas in Ketten legen. Zum Glück gibt es Rettung. Im Jahr 2020 sollen bereits 70 Prozent der weltweiten Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen aus den Emerging Countries kommen. Im Zuge von Globalisierung und Personalisierung der Produktentwicklung bringen die Unternehmen immer mehr Produkte für diese Länder auf den Markt, deren Innovation im wesentlichen darin besteht, dass sie einfacher und kostengünstiger sind. Und plötzlich stellt man fest, dass es in unserer entwickelten Welt dafür einen Markt gibt und importiert sie zurück. Auch dafür haben die Amis ein schönes Schlagwort kreiert: Reverse Innovation.

PLM – ein Werkzeug für den Werkzeugbau?

Dass Unternehmen neben ihren Produktdaten auch ihre Werkzeugdaten, NC-Programme, Arbeitspläne und andere fertigungsrelevante Unterlagen mit einer zentralen PLM-Lösung verwalten, damit die Mitarbeiter an anderen Produktionsstandorten auf diese Informationen zugreifen können, sieht man nicht oft. Ich habe eine diese Raritäten neulich in der Hinterpfalz entdeckt. Die Werkzeugbauer des betreffenden Unternehmens waren sogar treibende Kraft bei der PLM-Einführung, wenngleich sie das Projekt nicht ohne Unterstützung der Produktentwicklung und IT hätten durchsetzen können.

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Mit freundlicher Genehmigung von Grant Cochrane auf FreeDigitalPhotos.net

Als ich den Systemadministrator im Werkzeugbau nach dem Funktionsumfang des Produktdatenmanagements fragte, korrigierte er mich höflich aber (pfälzisch) bestimmt: Wir reden bei uns nicht von PDM, sondern lieber von PLM, weil wir mit der Lösung die Prozesse über den gesamten Lifecycle der Werkzeuge unterstützen wollen. Er hatte völlig Recht: Bei der Firma können zum Beispiel auch die Mitarbeiter, die sich in den Werken um die Wartung der Werkzeuge kümmern, über Viewer auf die für sie relevanten Informationen zugreifen. Künftig sollen sie sogar per Mark-up auf den Dokumenten vermerken, was sie am Werkzeug geändert haben, damit die Konstrukteure das bei neuen Projekten berücksichtigt können.

Ich war erstaunt, dass Mitarbeiter im Werkzeugbau eines (zugegebenermaßen größeren) mittelständischen Unternehmens eine so klare Vorstellung davon haben, was PLM für ihre Organisation an Vorteilen bedeutet. Allerdings war sich der Leiter der Abteilung auch der Herausforderung bewusst, die der PLM-Einsatz für seine Mitarbeiter bedeutet. Um die Akzeptanz dauerhaft sicher zu stellen, müsse man die Anwender abholen und auf dem Weg begleiten, damit sie die Technologie verinnerlichten, wofür eigentlich mehr Personal erforderlich sei, meinte er.

Die größte Hürde für eine konsequente Nutzung der PLM-Technologie im Werkzeugbau des Unternehmens ist jedoch eine andere: Das Outsourcing. Die Unternehmensleitung hat vorgegeben, dass mehr als die Hälfte der Werkzeuge aus Kosten- und Kapazitätsgründen extern konstruiert und gefertigt wird. Die Lieferanten setzen jedoch nicht notwendigerweise das gleiche CAD/CAM-System ein wie die hauseigenen Werkzeugbauer, wenn sie die Werkzeuge überhaupt schon durchgängig in 3D modellieren. Dadurch ist der Import der fremden Werkzeugdaten ist mit einem Riesenaufwand verbunden – stücklistenrelevanten Informationen müssen praktisch von Hand eingegeben werden. Eigentlich bräuchte man einen portablen PLM-Client oder eine Art PLM-Portal, damit die Zulieferer ihre (Meta-)Daten selbst einpflegen können, aber dafür fehlt dem Unternehmen die IT-Infrastruktur.

Der PLM-Einsatz soll bei der Firma die Durchlaufzeiten verkürzen – auch im Werkzeugbau. Das wird man wohl erreichen, auch wenn ein Teil der Zeiteinsparungen durch die mangelnde Integration der Zuliefererdaten wieder aufgezehrt wird. Ihre uneinheitliche Qualität erschwert zudem das Lifecycle-Management der Werkzeuge, die im Laufe der (relativ langen) Produktlebenszyklen immer wieder repariert und überholt werden, und verursacht im späteren Werkzeugleben höhere Kosten. Das aber interessiert normalerweise den Einkauf nicht, da die Betriebskosten auf einer anderen Kostenstelle verbucht werden als die Anschaffung. Hier ist also die Unternehmensleitung gefordert, unter dem Gesichtspunkt der Total Cost of Ownership klare Vorgaben für die Zusammenarbeit mit Lieferanten zu machen.

Wenn einer eine Reise macht …

Image courtesy of Photokanok / FreeDigitalPhotos.net.
Image courtesy of Photokanok / FreeDigitalPhotos.net.

…dann kann er was erzählen. In einem aktuellen Beitrag im 2PLM Newsletter überträgt Scott Cleveland das Bild: „PLM is a … journey“. Das Bild passt, denn ehrlich gesagt, Durchmärsche bei der Umsetzung von PLM-Strategien sind mir nicht bekannt.  Scott dazu:

“PLM implementation is an on-going journey, not a destination. You can’t just install PLM and stop, you have to walk on.

Once implemented in a company, a PLM solution should function as intended. However, over time, the company will change. That means its requirements for PLM will change. And implementation will continue … [this] means you will have ongoing costs. But the rewards are there – I’ve often performed ROI analysis and the resulting ROI was always greater than 100%.”

Unsere Branche hat mit diesem Bild allerdings ihre Probleme, wenn Einkäufer Turn-Key und Festpreis lieber hören als alles andere. Ob die Baubranche nicht zum (schlechten) Vorbild wird, bei der sich unrealistisch knappe Kalkulationen und absehbare Nachtragsforderungen zu einer auf Dauer ungesunden Praxis mischen?

Dagegen helfen nur klare Ziele und Anforderungen oder bewährte Verfahren wie z.B. Prototyping, um diese festzulegen, meine ich. Gibt man beim Google Übersetzer „PLM is a journey“ ein, kommt raus: „PLM heißt Realismus und harte Arbeit. Aber die Aussicht lohnt sich“.