Qualitätsmanagement als Sisyphosarbeit

Qualitätsmanagement ist eine Sisyphosarbeit, bei der man nie wirklich am Ziel ankommt. Irgendwann fällt einem der Felsblock wieder vor die Füße. Davon kann der japanische Automobilhersteller Toyota ein (Klage-)Lied singen – ein richtiges sogar; nix mit Karaoke. Obwohl die Japaner das Qualitätsmanagement quasi erfunden haben, produzieren sie in letzter Zeit Rückruf-Aktionen in Serie.

Ein klarer Fall für CAPA (Corrective And Preventive Action) möchte man spotten: Aus den Fehlern der Japaner lernen, um sie in Zukunft zu vermeiden. Schadenfreude ist jedoch fehl am Platze: Erst Ende letzten Jahres musste der Volkswagen-Konzern in einer der größten Rückrufaktionen der Unternehmensgeschichte 2,6 Millionen Fahrzeuge wegen eines drohenden Getriebeschadens und Problemen mit dem Lichtsystem in die Werkstätten beordern. Betroffen war vor allem der chinesische Markt, wo die Fahrzeuge bei schwülen Temperaturen länger als anderswo im Stau stehen.

Toyoda Sakichi, König der japanischen Erfinder und Vater des Gründers von Automobilhersteller Toyota. Bild: Toyota
Toyoda Sakichi, König der japanischen Erfinder und Vater des Gründers von Automobilhersteller Toyota. Bild: Toyota

Das Toyota-Produktionssystem, das auf die Maximierung der Kundenzufriedenheit bei Qualität, Lieferzeit und Kosten ausgerichtet ist, war lange Zeit und ist immer noch Vorbild für ein erfolgreiches Qualitätsmanagement. Ganze Bücher wurden über den Toyota Way geschrieben. Eine seiner Grundlagen ist das von Toyoda Sakichi, dem Vater des Firmengründers, Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte Jidöka-Prinzip der autonomen Automatisierung. Es sieht die Kontrolle der gefertigten Materialien während des laufenden Produktionsprozesses vor, und zwar durch Komponenten und Funktionen der Maschinen (Webstühle), die es erlauben, Abweichungen vom Normalzustand selbsttätig zu erkennen.

Das muss man sich mal vorstellen: Die revolutionäre Idee von Industrie 4.0 wurde nicht etwa in Deutschland, sondern in Japan geboren, und das vor über 100 Jahren, während der zweiten industriellen Revolution. Arigatou! Toyoda-san, möchte man mit höflicher Verneigung Richtung aufgehender Sonne sagen.

Aber zurück zu unserem eigentlichen Thema. Toyoda Sakichi verdanken wir das Prinzip der prozessbegleitenden Qualitätssicherung und damit zugleich die Einsicht, dass es effizienter ist, die Produktqualität über gute Prozesse sicherzustellen als durch nachträgliche Kontrollen. Das bedeutet, dass Qualitätsmanagement nicht nur die Qualität des Produkts, sondern auch die der produkt-relevanten Prozesse im Blick hat. Allerdings war diese Prozesssicht zunächst noch sehr stark auf die Optimierung der Fertigung fokussiert.

Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Qualitätsmanagement dort ansetzen muss, wo 70 bis 80 der Kosten des späteren Produkts und damit auch die Kosten für die Beseitigung von Fehlern definiert werden: In der Produktentwicklung. Oder um genauer zu sein: In der Konzeptphase, in der die Qualitätsmerkmale des Produkts festgelegt und die Produktionsprozesse, das heißt das Zusammenspiel von Maschinen, Anlagen, Betriebsmitteln und Automatisierungstechnik für ihre Herstellung konzipiert werden. Dafür steht das Konzept der Advanced Product Quality Planning (APQP) und die dazu gehörigen Methoden zur Analyse möglicher Fehler im Prozess und ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit (FMEA).

Die besten Konzepte der Qualitätsvorausplanung nützen allerdings nichts, wenn die Planungsergebnisse im laufenden Entwicklungsprozess nicht durch entsprechende Reifeprüfungen regelmäßig abgesichert werden. Das Qualitätsmanagement kann deshalb nicht allein Aufgabe der Qualitätssicherung sein, sondern betrifft alle Disziplinen, die in den Produktentstehungsprozess involviert sind. Das bedeutet aber auch, dass die Werkzeuge und Methoden für das Qualitäts- und Risikomanagement in die IT-Lösungen zur Steuerung des Produktlebenszyklus integriert werden müssen.

Quality Lifecycle Management (QLM) sei einer der neuen Zuständigkeitsbereiche von PLM, schrieb Jim Brown von Tech Clarity schon vor Jahren in einem Blog-Beitrag, um gleich einzuschränken, dass die meisten PLM-Lösungen dafür funktional noch nicht reif seien. Das sollte sich inzwischen geändert haben. Schließlich muss die Befriedigung der Kundenbedürfnisse auch für Software-Hersteller das oberste Ziel des Qualitätsmanagements sein.

Industrie 4.0 braucht smarte Produkte

Die vierte industrielle Revolution kann die Produktivität der deutschen Wirtschaft bis zum Jahr 2025 um mindestens 78 Milliarden Euro steigern. Das behauptet eine Untersuchung, die das Fraunhofer IAO im Auftrag des Hightech-Verbands BITKOM durchgeführt hat (als PDF downloaden). Die Betonung liegt auf dem Wörtchen “kann”: Es handelt sich nicht um eine statistisch abgesicherte Prognose, sondern um die Einschätzung des Wachstumspotentials in ausgewählten Branchen durch verschiedene Branchenexperten.

Für die erfolgreiche Umsetzung von Industrie 4.0 müssen eine Reihe von Voraussetzungen technischer, organisatorischer und normativer Natur gegeben sein – so die Studie. Eine Revolution, die Normen voraussetzt, statt sie außer Kraft zu setzen? Das ist wieder mal typisch deutsch, möchte man spotten. Kein Wunder, dass hierzulande noch jede Revolution gescheitert ist, geschweige denn dass wir je eine Revolution erfolgreich exportiert hätten. Wir erlauben Revolutionären allenfalls die Durchreise in plombierten Waggons, damit sie andernorts umstürzlerisch tätig werden. Und dass sich Angela Merkel als deutsche Jeanne d’ Arc an die Spitze dieser Umsturzbewegung stellt, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Das ist ungefähr so als wäre Louis XVI im Juli 1789 auf den Balkon von Versailles getreten und hätte zum Sturm auf die Bastille aufgerufen.

Quelle: Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0 von acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften e.V.

Wenn ich, was die Erfolgsaussichten von Industrie 4.0 anbelangt, skeptisch bin, dann aber aus einem anderen Grund: Das von der Bundesregierung initiierte Zukunftsprojekt oder das, was davon bislang an die Öffentlichkeit dringt, ist für meinen Geschmack viel zu einseitig auf die Produktion d.h. die intelligente Vernetzung der Fertigungs- und Logistikprozesse fokussiert. Da sind wir in Deutschland eigentlich ganz gut aufgestellt. Die intelligente Fabrik ist zweifellos wichtig, weil wir aufgrund der Individualisierung unserer Produkte bei kleiner werdenden Stückzahlen hohe Anforderungen an die Flexibilisierung der Produktionsprozesse haben. Aber sie reicht nicht aus. Was nutzt uns eine noch so intelligente Fabrik, wenn wir darin dumme Produkte fertigen, die keiner mehr haben will?

Prof. Martin Eigner, einer der Autoren des bei acatech veröffentlichten Diskussionspapiers zum Thema Smart Engineering (als PDF downloaden), hat das in einem Gespräch am Rande des ProSTEP iViP-Symposiums neulich auf den Punkt gebracht: “Ohne intelligente Produkte gibt es keine Industrie 4.0. Unser Problem in Deutschland ist nicht die Fertigung, sondern dass wir dafür neue Produkte und Geschäftsmodelle generieren müssen.”

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich finde es begrüßenswert, dass die vierte industrielle Revolution mit Forschungsgeldern in Milliardenhöhe gefördert wird. Nur befürchte ich, dass viele dieser Gelder in die falschen Projekte investiert werden. Industrie 4.0 tut nämlich den zweiten Schritt vor dem ersten: Bevor wir uns darüber Gedanken machen, wie sich Produkte intelligenter fertigen lassen, sollten wir uns erst einmal überlegen, wie wir es schaffen, smartere Produkte zu entwickeln. Produkte, die über das Internet of Things (IoT) miteinander kommunizieren und dadurch neue Dienstleistungsangebote und Geschäftsmodelle ermöglichen. Das ist der Denkansatz, den die Amerikaner verfolgen. Mit wie viel Intelligenz diese smarten Produkte dann gefertigt werden, wird auch davon abhängen, wo auf der Welt die Fertigung angesiedelt ist. Ich glaube nämlich nicht, dass es uns dank noch so intelligenter Fabriken gelingen wird, beispielsweise die Handy-Fertigung nach Europa zu holen. Je mehr Varianz in einem Produkt über die Software abgebildet werden kann, desto einfacher lassen sich die mechanischen Komponenten in Großserie fertigen und montieren. Und dafür muss eine Fabrik nicht besonders schlau sein.

Das IoT bedeutet eine große Herausforderung für die Innovationsfähigkeit der Unternehmen. Sie müssen in der Lage sein, komplexe mechatronische Systeme zu entwickeln, die über das Internet miteinander kommunizieren. Und sie müssen diese cyberphysischen Systeme um innovative Dienstleistungen ergänzen, die gegebenenfalls ihre bestehenden Geschäftsmodelle in Frage stellen. Dafür benötigen sie einerseits leistungsfähige Werkzeuge und Methoden für die interdisziplinäre Produktenwicklung und für ein systematisches Innovationsmanagement; andererseits müssen sie ihre Innovations- und Entwicklungsprozesse neu strukturieren.

Wenn die vierte industrielle Revolution nicht im Engineering ansetzt, wo meines Erachtens der größere Handlungsbedarf besteht, ist sie zum Scheitern verurteilt. Dann wird Industrie 4.0 ebenso schnell wieder vergessen sein wie die selige CIM-Philosophie vor 30 Jahren. Hier für Nostalgiker zur Erinnerung noch mal die CIM-Definition der Society of Manufacturing Engineers (SME): CIM is the integration of total manufacturing enterprise by using integrated systems and data communication coupled with new managerial philosophies that improve organizational and personnel efficiency. Das ist nicht weit von der Idee der digitalen Fabrik entfernt. Nur dass es das Internet als Plattform für ihre Vernetzung damals noch nicht gab. Aber genau wie damals fehlen auch heute wieder die Standards. Ohne solche Standards – so die eingangs erwähnte BITKOM-Studie – ist die freie, problemlose Austauschbarkeit von Industrie 4.0-Komponenten nach dem Prinzip des “Plug and Produce” nicht denkbar.

Datei- oder datenbankorientiert – ist das die Frage?

Auf dem diesjährigen ProSTEP iViP-Symposium hatte ich das Plaisir, einen ziemlich erbosten Dominique Florack zu interviewen. “Wenn die europäischen Unternehmen nicht endlich verstehen, dass die Zukunft der PLM-Technologie im datenbankorientierten Arbeiten liegt, setzen sie ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel”, meinte der Mann, der als Senior Vice President Research & Development bei Dassault Systèmes maßgeblich für die Entwicklung der 3DExperience-Plattform verantwortlich ist. ERP- oder CRM-Systeme arbeiteten schließlich auch datenbankgestützt.

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Mit freundlicher Genehmigung Danilo Rizzuti, FreeDigitalPhotos.net

Obwohl ich Florack prinzipiell durchaus zustimmen würde, muss ich zu bedenken geben, dass die Frage des datei- oder datenbankorientierten Arbeitens in erster Linie eine Frage der Autorensysteme ist. Solange CAD-Systeme die Arbeitsergebnisse als Files ablegen, bleibt den PDM/PLM-Lösungen nichts viel anderes übrig, als sie dateibasiert zu verwalten. Aber genau da liegt der Hase im Pfeffer: Was Florack den bockigen Kunden (und uns Journalisten) mit der Cloud im Hinterkopf eigentlich sagen will ist, dass die Zukunft der CAD-Technologie im datenbankorientierten Arbeiten liegt. Um CAD in der Cloud betreiben zu können, brauche man eine andere Software-Architektur.

Auch dagegen wäre prinzipiell nichts einzuwenden, wenn es einen allgemein akzeptierten Standard dafür gäbe, wie der Content einer CAD-Konstruktion datenbankgestützt zu verwalten ist. Oder wenn die CAD-Hersteller ihre Verwaltungsstrukturen offen legen würden. Dann wäre der Kunde nicht gezwungen, ein bestimmtes Datenmanagementsystem (nämlich das seines CAD-Lieferanten) einzusetzen, um aus einzelnen Elementen wieder ein digitales Produktmodell aufzubauen, und er könnte sie auch datenbankgestützt austauschen. Denn es macht keinen Sinn, bei verteilten Entwicklungsprojekten erst datenbankorientiert zu konstruieren, um die Konstruktionen den Partnern in der Zulieferkette dann doch wieder dateibasiert zur Verfügung zu stellen. Dann wären wir wieder in den Anfangszeiten der 3D-Konstruktion, als die Modelle immer wieder platt geklopft wurden, um sie mit den Zulieferern zeichnungsbasiert austauschen zu können.

Ehrlich gesagt, bin ich skeptisch, dass wir einen solchen Standard und/oder das nötige Maß an Offenheit je sehen werden. Zwar haben inzwischen alle namhaften PLM-Hersteller den berühmten Codex of PLM Openness unterzeichnet, der in den letzten Jahren maßgeblich vom ProSTEP iViP-Verein vorangetrieben wurde, doch bezeichnenderweise wurde der CPO auf dem diesjährigen Symposium nicht mit einem Wort erwähnt. Oder wenn, dann so leise, dass ich es nicht vernommen habe. Man hätte gerne gewusst, welche Fortschritte Anwender und Anbieter bei der Umsetzung in den letzten 12 Monaten gemacht haben. Ist die PLM-Welt dadurch ein bisschen offener geworden?

Was das Thema Standardisierung anbelangt, erwähnte Florack STEP AP 242 als mögliche Referenz für die datenbankorientierte Engineering Collaboration; man müsse den Standard nur endlich richtig implementieren, statt ihn auf seine Funktionen für den (dateibasierten) Geometriedatenaustausch zu reduzieren. Das mag wohl sein, aber mir wäre nicht bekannt, dass Dassault ihren Kunden inzwischen die Möglichkeit bietet, CATIA V6-Daten STEP AP242-konform mit einem anderen PDM-System als ENOVIA V6 zu verwalten. Aber was nicht ist, kann ja noch werden, wenn die ISO-Normierung des neuen STEP-Standards erst einmal abgeschlossen ist.

Letztlich geht es aber nicht um die Frage, ob man PLM datei- oder datenbankorientiert betreibt, sondern darum, wie zugänglich die Informationen in der Datenbank sind – für den Erzeuger, dessen geistiges Eigentum sie sind, für seine Partner, die mit den Daten weiter arbeiten sollen, für künftige Anwender, die vielleicht auch noch in 50 Jahren noch darauf zugreifen müssen, und letztlich auch für andere PLM-Hersteller, die diese Daten eventuell in ihre IT-Lösungen migrieren sollen. Solange diese Offenheit nicht gegeben ist, werden die Unternehmen dem datenbankorientierten PLM-Ansatz misstrauen.