Wohin mit der Fertigungsstückliste?

In Fachkreisen wird seit einiger Zeit lebhaft darüber diskutiert, wo die Fertigungsstückliste eigentlich hingehört. Da diese Diskussion im wesentlichen auf Englisch geführt wird, ist allerdings meist von Manufacturing Bill of Material bzw. mBOM die Rede. Spontan würde man sagen, sie gehört ins ERP-System, weil das ERP-System – oft in Verbindung mit einem MES-System (Manufacturing Execution System) – die Fertigungsprozesse steuert und weil es das bevorzugte Werkzeug der Mitarbeiter im Unternehmen ist, die für die Steuerung dieser Prozesse verantwortlich sind. Aber die Sache ist nicht ganz so einfach.

Fertigungsstücklisten werden immer seltener von Hand im ERP-System angelegt. Meist sind sie das Ergebnis einer Produktstruktur, die im 3D-CAD-System wächst. Der PLM-Einsatz hat in vielen Unternehmen zu einem arbeitsteiligen Stücklistenmanagement geführt: Die Konstruktionsstückliste (Engineering Bill of Material oder kurz eBOM) wird im PLM-System angelegt und ab einem bestimmten Reifegrad an das ERP-System übergeben, um die mBOM abzuleiten. Je nach Prozess-Anforderungen wird sie im ERP-System nicht nur um Positionen wie den berühmten Tropfen Öl ergänzt, sondern sogar in ihrem Aufbau verändert.

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Mit freundlicher Genehmigung Stuart Miles, www.FreeDigitalPhotos.net

Die quasi automatische Erzeugung bzw. Ableitung der Stücklisten spart Zeit und vermeidet Fehleingaben. Bei technischen Änderungen verursachen die Unterschiede zwischen eBOM und mBOM jedoch einen erheblichen Aufwand für die Synchronisation der redundanten Stücklisten-Informationen in den verschiedenen IT-Systemen. Das umso mehr, wenn die eBOM auf mehrere, werkspezifische mBOMs abgebildet werden muss, weil ein und dasselbe Produkt an verschiedenen Standorten mit unterschiedlichen Zutaten und nach unterschiedlichen Rezepten produziert wird.

Der Leidensdruck bei der Stücklisten-Synchronisation ist nicht in allen Unternehmen gleich groß. Insbesondere Hersteller von komplexen Produkten mit langen Lebenszyklen, die viel Re-Engineering und Re-Konfiguration betreiben, beklagen sich oft über die mangelnde ERP-Unterstützung bei Änderungen an den Fertigungsstücklisten. Auch Unternehmen, die an ihren global verteilten Fertigungsstandorten separate ERP-Systeme oder -Instanzen nutzen, vermissen ein übergreifendes Stücklistenmanagement, um Änderungen schnell und sicher an die Werke kommunizieren zu können. Noch schwieriger ist die Synchronisation zwischen eBOM und mBOM, wenn sich die Entwicklung und Fertigung über eine lange Zulieferkette verteilen, was heute vielen Branchen der Fall ist.

Das arbeitsteilige Stücklistenmanagement wird deshalb zunehmend in Frage gestellt – bis hin zu der Überlegung, ein so genanntes Master Data Management (MDM) für die Verwaltung sämtlicher Stücklisten-Ausprägungen aufzusetzen. So charmant die Idee ist, ich glaube nicht, dass wir dafür ein neues IT-System brauchen. Die Frage, wo die Fertigungsstückliste hingehört, ist nämlich im Prinzip falsch gestellt. Natürlich gehört sie irgendwann ins ERP- oder auch ins MES-System, damit das Produkt gefertigt werden kann. Worum es eigentlich geht ist, die Anlage der Fertigungsstückliste(n) und die Synchronisation zwischen mBOM und eBOM in einem System zusammenzuführen, das in der Lage ist, mehrere Stücklisten-Sichten zu verwalten und zu synchronisieren, um den Abstimmungsaufwand zu minimieren.

Meines Erachtens ist das keine Frage der Ideologie, sondern eine ganz pragmatische Entscheidung, die das Unternehmen entsprechend seiner Anforderungen und seiner IT-Landschaft fällen sollte. Wenn das ERP-System die Abbildung unterschiedlicher Sichten nicht oder nur ungenügend unterstützt, das PLM-System aber entsprechende Funktionen bietet, dann spricht nichts dagegen, die Hoheit über die Fertigungsstückliste an das PLM-System zu übertragen. Im Gegenteil, es spricht sogar einiges dafür – zum Beispiel die Möglichkeit, eBOM und mBOM im PLM auch mit der Service-Stückliste zu synchronisieren, die wieder ganz anders aufgebaut sein kann.

Hindernisse im PLM-Parcour

In diesem Sommer habe ich Irland wieder entdeckt, wo ich das letzte Mal vor über 15 Jahren war. Vieles hat sich seitdem verändert, nur die Infrastruktur scheint in vielen Gegenden so unberührt geblieben zu sein wie die herrlich grüne Natur: Man fährt mit viel zu breiten Autos über viel zu schmale Straßen vorbei an viel zu vielen Schafen – und das auch noch auf der “falschen” Seite. Dass da der Verkehrsfluss öfter mal stockt, nimmt nicht wunder.

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Connemara-Pony müsste man sein! Im PLM-Parcour sind viele Hindernisse zu überspringen. (Bild: Wendenburg)

Das irische Straßen-Bild kam mir in den Sinn, als ich den Accenture-Survey über PLM in der Luftfahrt und Wehrtechnik las (zugegeben, ich war noch halb im Urlaubsmodus): Ausgedehnte IT-Landschaften mit schlechten Verbindungen, über die Informationen langsam und oft nur in eine Richtung fließen. Die befragten Führungskräfte betrachten PLM zwar als wesentlich für Effizienzsteigerungen im Produktlebenszyklus, sind aber mit dem Nutzen ihrer bisherigen PLM-Investitionen nicht zufrieden. Ich denke, dass sich die Ergebnisse auch auf andere Branchen übertragen lassen.

Die Unternehmen der Luftfahrt und Wehrtechnik würden das PLM-Potenzial gerne nutzen, um ihre Umsätze deutlich zu steigern und ihre Kosten zu senken, stoßen aber dabei auf eine Vielzahl von Hindernissen: Handlungsbedarf besteht vor allem bei der Integration zwischen PLM und der Fertigung sowie bei der Kollaboration mit der Zulieferkette, aber auch bei der Zusammenarbeit zwischen Engineering und Service. Statt in die Tiefe der PLM-Funktionalität, sollten Unternehmen laut Accenture lieber in die Breite einer Prozessintegration investieren.

Die Führungskräfte sind sich der Schwachstellen bewusst. Immerhin 94 Prozent der Befragten gaben an, dass die Fertigung von einer besseren Integration mit der Produktentwicklung profitieren würde und die meisten von ihnen planen entsprechende Investitionen. Die Studie zeigt verschiedene Handlungsfelder auf: Companies’ responses show significant discrepancies between expected benefits of integrating product development and manufacturing, and satisfaction with today’s performance. Similar gaps are seen across the bill of materials, efficiency and control of change orders, graphical work instructions and process plans.”

Eine wesentliche Erkenntnis der Studie ist, dass die Unternehmen zu wenig Nutzen aus den PLM-Daten ziehen. Das gilt sowohl für den Umfang an Daten, die anderen Funktionen und Prozessen bereit gestellt werden, als auch für die Informationen, die sie aus diesen Daten ziehen. Ein Großteil der Befragten gab an, Analytik- und Business-Intelligence-Funktionen anzuwenden oder anwenden zu wollen, um die Nutzung der Produktdaten zu verbreitern und bessere Entscheidungen treffen zu können. Accenture zufolge werden wir in der nächsten Zeit deshalb vermehr Einführungen von entsprechenden Analytik-Werkzeugen sehen.

Um den Nutzen ihrer PLM-Investitionen zu verbessern, werden die Unternehmen weiterhin in PLM investieren (müssen) – allerdings wird sich der Fokus in den nächsten Jahren verschieben. Während zum Beispiel die Investitionen in Projekt- und Programm-Management-Funktionen deutlich sinken sollen, werden die Unternehmen weiterhin massiv in das Konfigurationsmanagement investieren. Davon werden PLM-Hersteller profitieren, die sich seit Jahren intensiv mit dem Thema beschäftigen – vorausgesetzt sie schaffen es, eine wesentliche Anforderung zu erfüllen: Die Komplexität des Konfigurationsmanagements zu reduzieren!

Qualitätsmanagement als Sisyphosarbeit

Qualitätsmanagement ist eine Sisyphosarbeit, bei der man nie wirklich am Ziel ankommt. Irgendwann fällt einem der Felsblock wieder vor die Füße. Davon kann der japanische Automobilhersteller Toyota ein (Klage-)Lied singen – ein richtiges sogar; nix mit Karaoke. Obwohl die Japaner das Qualitätsmanagement quasi erfunden haben, produzieren sie in letzter Zeit Rückruf-Aktionen in Serie.

Ein klarer Fall für CAPA (Corrective And Preventive Action) möchte man spotten: Aus den Fehlern der Japaner lernen, um sie in Zukunft zu vermeiden. Schadenfreude ist jedoch fehl am Platze: Erst Ende letzten Jahres musste der Volkswagen-Konzern in einer der größten Rückrufaktionen der Unternehmensgeschichte 2,6 Millionen Fahrzeuge wegen eines drohenden Getriebeschadens und Problemen mit dem Lichtsystem in die Werkstätten beordern. Betroffen war vor allem der chinesische Markt, wo die Fahrzeuge bei schwülen Temperaturen länger als anderswo im Stau stehen.

Toyoda Sakichi, König der japanischen Erfinder und Vater des Gründers von Automobilhersteller Toyota. Bild: Toyota
Toyoda Sakichi, König der japanischen Erfinder und Vater des Gründers von Automobilhersteller Toyota. Bild: Toyota

Das Toyota-Produktionssystem, das auf die Maximierung der Kundenzufriedenheit bei Qualität, Lieferzeit und Kosten ausgerichtet ist, war lange Zeit und ist immer noch Vorbild für ein erfolgreiches Qualitätsmanagement. Ganze Bücher wurden über den Toyota Way geschrieben. Eine seiner Grundlagen ist das von Toyoda Sakichi, dem Vater des Firmengründers, Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte Jidöka-Prinzip der autonomen Automatisierung. Es sieht die Kontrolle der gefertigten Materialien während des laufenden Produktionsprozesses vor, und zwar durch Komponenten und Funktionen der Maschinen (Webstühle), die es erlauben, Abweichungen vom Normalzustand selbsttätig zu erkennen.

Das muss man sich mal vorstellen: Die revolutionäre Idee von Industrie 4.0 wurde nicht etwa in Deutschland, sondern in Japan geboren, und das vor über 100 Jahren, während der zweiten industriellen Revolution. Arigatou! Toyoda-san, möchte man mit höflicher Verneigung Richtung aufgehender Sonne sagen.

Aber zurück zu unserem eigentlichen Thema. Toyoda Sakichi verdanken wir das Prinzip der prozessbegleitenden Qualitätssicherung und damit zugleich die Einsicht, dass es effizienter ist, die Produktqualität über gute Prozesse sicherzustellen als durch nachträgliche Kontrollen. Das bedeutet, dass Qualitätsmanagement nicht nur die Qualität des Produkts, sondern auch die der produkt-relevanten Prozesse im Blick hat. Allerdings war diese Prozesssicht zunächst noch sehr stark auf die Optimierung der Fertigung fokussiert.

Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Qualitätsmanagement dort ansetzen muss, wo 70 bis 80 der Kosten des späteren Produkts und damit auch die Kosten für die Beseitigung von Fehlern definiert werden: In der Produktentwicklung. Oder um genauer zu sein: In der Konzeptphase, in der die Qualitätsmerkmale des Produkts festgelegt und die Produktionsprozesse, das heißt das Zusammenspiel von Maschinen, Anlagen, Betriebsmitteln und Automatisierungstechnik für ihre Herstellung konzipiert werden. Dafür steht das Konzept der Advanced Product Quality Planning (APQP) und die dazu gehörigen Methoden zur Analyse möglicher Fehler im Prozess und ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit (FMEA).

Die besten Konzepte der Qualitätsvorausplanung nützen allerdings nichts, wenn die Planungsergebnisse im laufenden Entwicklungsprozess nicht durch entsprechende Reifeprüfungen regelmäßig abgesichert werden. Das Qualitätsmanagement kann deshalb nicht allein Aufgabe der Qualitätssicherung sein, sondern betrifft alle Disziplinen, die in den Produktentstehungsprozess involviert sind. Das bedeutet aber auch, dass die Werkzeuge und Methoden für das Qualitäts- und Risikomanagement in die IT-Lösungen zur Steuerung des Produktlebenszyklus integriert werden müssen.

Quality Lifecycle Management (QLM) sei einer der neuen Zuständigkeitsbereiche von PLM, schrieb Jim Brown von Tech Clarity schon vor Jahren in einem Blog-Beitrag, um gleich einzuschränken, dass die meisten PLM-Lösungen dafür funktional noch nicht reif seien. Das sollte sich inzwischen geändert haben. Schließlich muss die Befriedigung der Kundenbedürfnisse auch für Software-Hersteller das oberste Ziel des Qualitätsmanagements sein.