Der Fortschritt ist ein Walkürenritt

Den Fortschrittsglauben meiner technikverliebten Freunde und Kollegen teile ich nur bedingt. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir jeden Fortschritt mit lauter kleinen Rückschritten erkaufen. Vor ein paar Tagen, als mein “alter” DVD-Player plötzlich seinen Geist aufgab, ist mit das wieder bewusst geworden. Das No-Name-Gerät hatte einen analogen Audio-Ausgang mit zwei Cinch-Buchsen, so dass ich ihn an meine (wirklich alte) Stereo-Anlage anschließen und mir Filme mit guter Musik über die Boxen anhören konnte. Da klang Wagners Walkürenritt in Apocalyse Now noch mal so gut.

Jetzt habe ich einen nagelneuen Blu(e)-Ray-Player von einem namhaften koreanischen Hersteller, den ich sogar ins WLAN hängen kann. Aber statt der Cinch-Buchsen hat er nur noch einen digitalen Coaxial-Ausgang, und in dem ganzen Medienmarkt war kein Mitarbeiter in der Lage mir zu erklären, wie ich das Gerät wieder an meine Stereo-Anlage anschließen kann. Einer meinte, ich solle das Audiosignal doch am Euro Connector des Fernsehers abgreifen und in den Receiver einspeisen, worauf mir der Song von Mike Krüger in den Sinn kam: “Sie müssen erst den Nippel durch die Lasche ziehen…”

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Smart Connected Systems stelle ich mir anders vor. Vielleicht hätte ich einen der Kunden fragen sollen, die – wenn man der Werbung besagten Marktes Glauben schenken darf – nicht blöd sind. Der hätte mir dann gesagt, dass ich dafür ein Zusatzgerät benötige, das ich im Spezialhandel suchen muss und das mehr kostet als der neue Player. Aber zum Glück gibt es ja heute das Internet, um die Probleme zu lösen, die man vor dem Internet-Zeitalter nicht hatte. Und wo man den Digital Audio Converter dann auch gleich online bestellen kann.

Sie werden sich sicher fragen, was das alles mit PLM zu tun hat? Ich überlege auch schon die ganze Zeit fieberhaft, wie ich die Kurve kriege. Nun, zunächst einmal macht das Beispiel einmal mehr deutlich, warum wir PLM so dringend benötigen. Es gibt keine einfachen Lösungen mehr – alles wird komplizierter, und ohne PLM sind wir einfach nicht mehr in der Lage, die Komplexität zu beherrschen.

Zwingend erforderlich ist die Integration eines leistungsfähigen Anforderungsmanagements in die PLM-Systeme, damit unsere Kundenbedürfnisse endlich besser erfasst werden. Allerdings befürchte ich, dass mein Wunsch nach Anschluss des Players an eine klassische Stereo-Anlage spätestens bei der Priorisierung der erfassten Anforderungen dem Mainstream zum Opfer fallen würde. Stereo-Anlagen sind halt “mega-out”, wie meine Kinder sagen würden. Die hören Musik mit Handy und Knopf im Ohr und wissen deshalb gar nicht mehr wie gut Musik aus Boxen klingen kann.

Ich kann nur hoffen, dass irgendein Hersteller sein Player-Portfolio PLM-gestützt managt und dank eines integrierten Variantenmanagements in der Lage ist, eine meinen Anforderungen entsprechende Produktvariante zu konfigurieren. Es wird doch ständig von Mass Customization geredet – davon dass Massenprodukte immer variantenreicher werden, um individuelle Kundenanforderungen zu erfüllten. Das mag für deutsche Premium-Fahrzeuge und deutsche Premium-Maschinen sicher lohnenswerter sein, als für elektronische Massenware aus dem fernen Korea, die – das muss man der Fairness halber sagen – sehr viel Leistung für wenig Geld bietet. Aber mit Elektronik und Software lässt sich Varianz doch angeblich viel preisgünstiger abbilden als in Hardware.

Das Problem ist, dass die Lebenszyklen elektronischer Konsumgüter im Ladenregal so kurz sind, dass man kaum Zeit hat, sie zu managen. Ihre Lebensdauer ist hingegen wesentlich länger, was dazu führt, dass in unseren Haushalten Produkte unterschiedlicher Generationen zusammenleben. Wir brauchen also ein generationenübergreifendes Produktfamilien-Management. Und wir brauchen ein PLM-gestütztes Systems Engineering, das die Connectivity-Konflikte zwischen unterschiedlichen Produktgenerationen berücksichtigt.

Nachtrag: Ich habe meinen alten, voll funktionsfähigen Receiver inzwischen dem Fortschritt geopfert und ein Gerät mit digitalem Audio-Eingang bestellt – in der Gewissheit, dass es nicht besser klingen, dafür aber höchstens halb so lange halten wird. Zum Glück dürfte dank PLM zumindest die Recyclingfähigkeit sichergestellt sein.

Verbesserungen am laufenden Band

Der Ausdruck “am laufenden Band” stammt – so möchte ich mal vermuten – aus der Welt der Fertigung, hat sich aber dank Rudi Carrell zu einem stehenden Begriff für alles entwickelt, was in rastloser Unruhe ist. Vielleicht sollte man besser von Verbesserungen im laufenden Betrieb sprechen. Denn darum geht es, wenn Unternehmen ihre funktionierenden PLM-Installationen weiter ausbauen und verbessern.

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Mit freundlicher Genehmigung Chomnancoffee, FreeDigitalPhotos.net

Neulich sprach ich mit dem Projektleiter eines mittelständischen Schweizer Unternehmens, das im vergangenen Jahr eine umfassende PLM-Lösung einschließlich Projektverwaltung implementiert hatte. Unmittelbare Nutzeneffekte waren eine bessere Prozessdurchgängigkeit und Datenkonsistenz. Inzwischen hat das Unternehmen sein Änderungsmanagement dahingehend erweitert, dass bei Freigabe der Änderung eines Artikels die Stücklisten von allen Produkten, in denen dieser Artikel verbaut ist, automatisch aktualisiert werden. Die Zeiteinsparungen durch die Neuerung sind nicht gewaltig, weil man auch früher schon Sammeloperationen ausführen konnte, aber die erweiterten Änderungsmanagement-Funktionen befreien die Anwender von lästigen Routinetätigkeiten. Vor allem aber sind sie die Grundlage für die Abbildung des gesamten ECM-Prozesses (Engineering Change Management) in einem elektronischen Workflow, von dem das sich Unternehmen sich eine spürbare Verkürzung der Durchlaufzeiten von Änderungen verspricht. Sie soll der nächsten Ausbaustufe umgesetzt werden.

Die Moral von der Geschichte ist, dass PLM-Projekte eigentlich nie zu Ende gehen. Es müssen im laufenden Betrieb immer wieder neue Wünsche und Bedürfnisse umgesetzt werden, und sei es nur deshalb, weil sich die Anforderungen des Unternehmens mit der Zeit verändern. Eines ist allerdings sicher: Es werden nie weniger, sondern immer mehr, weshalb sich der Funktionsumfang der PLM-Installationen ständig vergrößert. Wer hätte vor ein paar Jahren gedacht, dass Themen wie Anforderungsmanagement, Konfigurationsmanagement, Projektmanagement oder Qualitätsmanagement mal zu den PLM-Funktionen gehören würden.

Mit wachsendem Funktionsumfang wächst der Kreis der PLM-Anwender und er wird heterogener. Im Unterschied zu den Ingenieuren, die zu den Power Usern gehören, greifen viele andere Anwendergruppen nur gelegentlich auf PLM-Informationen zu. Sie brauchen eine einfache, intuitiv zu bedienende Benutzeroberfläche, in der sie sich ohne Lernaufwand zurecht finden. Dieser Anforderung werden viele PLM-Systeme immer noch nicht ganz gerecht, was sich negativ auf die Akzeptanz auswirkt.

Auch seitens des Managements ergeben sich neue Anforderungen an die PLM-Systeme. Die Führungskräfte wollen vielleicht ihre Entscheidungen mit Hilfe von Kennzahlen besser absichern, die sich aus den oft beiläufig erfassten Informationen im PLM destillieren lassen. Oder sie wollen eine Multiprojektsicht auf alle laufenden und geplanten Entwicklungsprojekte haben, um Prognosen über die weitere Geschäftsentwicklung machen zu können.

Was bedeutet das für die PLM-Systeme und ihre Hersteller? Zunächst einmal, dass sie wachstumsfähig sein müssen. Mit den monolithischen Software-Architekturen der Vergangenheit ist es kaum möglich, den erweiterten Funktionsumfang in einer angemessenen Zeit bereitzustellen. Notwendig sind modulare Software-Plattformen, die sich schnell und flexibel um neue Anwendungsmodule ergänzen lassen. Notwendig sind leistungsfähigere Programmierwerkzeuge, mit denen der Kunde oder sogar ein Third-Party-Entwickler zusätzliche Module entwickeln kann, ohne die Update-Fähigkeit der Lösung zu verbauen. Notwendig ist aber auch und vor allem mehr Offenheit der PLM-Systeme, um Fremdanwendungen leichter integrieren zu können, denn die Hersteller werden auf Dauer nicht den gesamten Funktionsumfang aus eigener Kraft bereitstellen wollen oder können.

Industrie 4.0 braucht smarte Produkte

Die vierte industrielle Revolution kann die Produktivität der deutschen Wirtschaft bis zum Jahr 2025 um mindestens 78 Milliarden Euro steigern. Das behauptet eine Untersuchung, die das Fraunhofer IAO im Auftrag des Hightech-Verbands BITKOM durchgeführt hat (als PDF downloaden). Die Betonung liegt auf dem Wörtchen “kann”: Es handelt sich nicht um eine statistisch abgesicherte Prognose, sondern um die Einschätzung des Wachstumspotentials in ausgewählten Branchen durch verschiedene Branchenexperten.

Für die erfolgreiche Umsetzung von Industrie 4.0 müssen eine Reihe von Voraussetzungen technischer, organisatorischer und normativer Natur gegeben sein – so die Studie. Eine Revolution, die Normen voraussetzt, statt sie außer Kraft zu setzen? Das ist wieder mal typisch deutsch, möchte man spotten. Kein Wunder, dass hierzulande noch jede Revolution gescheitert ist, geschweige denn dass wir je eine Revolution erfolgreich exportiert hätten. Wir erlauben Revolutionären allenfalls die Durchreise in plombierten Waggons, damit sie andernorts umstürzlerisch tätig werden. Und dass sich Angela Merkel als deutsche Jeanne d’ Arc an die Spitze dieser Umsturzbewegung stellt, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Das ist ungefähr so als wäre Louis XVI im Juli 1789 auf den Balkon von Versailles getreten und hätte zum Sturm auf die Bastille aufgerufen.

Quelle: Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0 von acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften e.V.

Wenn ich, was die Erfolgsaussichten von Industrie 4.0 anbelangt, skeptisch bin, dann aber aus einem anderen Grund: Das von der Bundesregierung initiierte Zukunftsprojekt oder das, was davon bislang an die Öffentlichkeit dringt, ist für meinen Geschmack viel zu einseitig auf die Produktion d.h. die intelligente Vernetzung der Fertigungs- und Logistikprozesse fokussiert. Da sind wir in Deutschland eigentlich ganz gut aufgestellt. Die intelligente Fabrik ist zweifellos wichtig, weil wir aufgrund der Individualisierung unserer Produkte bei kleiner werdenden Stückzahlen hohe Anforderungen an die Flexibilisierung der Produktionsprozesse haben. Aber sie reicht nicht aus. Was nutzt uns eine noch so intelligente Fabrik, wenn wir darin dumme Produkte fertigen, die keiner mehr haben will?

Prof. Martin Eigner, einer der Autoren des bei acatech veröffentlichten Diskussionspapiers zum Thema Smart Engineering (als PDF downloaden), hat das in einem Gespräch am Rande des ProSTEP iViP-Symposiums neulich auf den Punkt gebracht: “Ohne intelligente Produkte gibt es keine Industrie 4.0. Unser Problem in Deutschland ist nicht die Fertigung, sondern dass wir dafür neue Produkte und Geschäftsmodelle generieren müssen.”

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich finde es begrüßenswert, dass die vierte industrielle Revolution mit Forschungsgeldern in Milliardenhöhe gefördert wird. Nur befürchte ich, dass viele dieser Gelder in die falschen Projekte investiert werden. Industrie 4.0 tut nämlich den zweiten Schritt vor dem ersten: Bevor wir uns darüber Gedanken machen, wie sich Produkte intelligenter fertigen lassen, sollten wir uns erst einmal überlegen, wie wir es schaffen, smartere Produkte zu entwickeln. Produkte, die über das Internet of Things (IoT) miteinander kommunizieren und dadurch neue Dienstleistungsangebote und Geschäftsmodelle ermöglichen. Das ist der Denkansatz, den die Amerikaner verfolgen. Mit wie viel Intelligenz diese smarten Produkte dann gefertigt werden, wird auch davon abhängen, wo auf der Welt die Fertigung angesiedelt ist. Ich glaube nämlich nicht, dass es uns dank noch so intelligenter Fabriken gelingen wird, beispielsweise die Handy-Fertigung nach Europa zu holen. Je mehr Varianz in einem Produkt über die Software abgebildet werden kann, desto einfacher lassen sich die mechanischen Komponenten in Großserie fertigen und montieren. Und dafür muss eine Fabrik nicht besonders schlau sein.

Das IoT bedeutet eine große Herausforderung für die Innovationsfähigkeit der Unternehmen. Sie müssen in der Lage sein, komplexe mechatronische Systeme zu entwickeln, die über das Internet miteinander kommunizieren. Und sie müssen diese cyberphysischen Systeme um innovative Dienstleistungen ergänzen, die gegebenenfalls ihre bestehenden Geschäftsmodelle in Frage stellen. Dafür benötigen sie einerseits leistungsfähige Werkzeuge und Methoden für die interdisziplinäre Produktenwicklung und für ein systematisches Innovationsmanagement; andererseits müssen sie ihre Innovations- und Entwicklungsprozesse neu strukturieren.

Wenn die vierte industrielle Revolution nicht im Engineering ansetzt, wo meines Erachtens der größere Handlungsbedarf besteht, ist sie zum Scheitern verurteilt. Dann wird Industrie 4.0 ebenso schnell wieder vergessen sein wie die selige CIM-Philosophie vor 30 Jahren. Hier für Nostalgiker zur Erinnerung noch mal die CIM-Definition der Society of Manufacturing Engineers (SME): CIM is the integration of total manufacturing enterprise by using integrated systems and data communication coupled with new managerial philosophies that improve organizational and personnel efficiency. Das ist nicht weit von der Idee der digitalen Fabrik entfernt. Nur dass es das Internet als Plattform für ihre Vernetzung damals noch nicht gab. Aber genau wie damals fehlen auch heute wieder die Standards. Ohne solche Standards – so die eingangs erwähnte BITKOM-Studie – ist die freie, problemlose Austauschbarkeit von Industrie 4.0-Komponenten nach dem Prinzip des “Plug and Produce” nicht denkbar.