MBSE ist zu wichtig, um keinen Podcast zu haben

Wir schreiben September 2020 – ein lauer Spätsommerabend: Tim Weilkiens und ich halten ein virtuelles Meeting ab, um zu besprechen, was wir in unserem gemeinsamen Beitrag auf dem Tag des Systems Engineering 2020 präsentieren möchten. Es wird auf ein Beispiel aus dem aktuellen Entwicklungsstand der SysMLv2 hinauslaufen – etwas Neues – eine Live-Demo wäre super – das kennt in Deutschland noch kaum jemand. Aber warum eigentlich? Da müsste man eigentlich mal einen Podcast zu starten!

So oder so ähnlich kann man die Geburt unserer Podcast-Idee „The MBSE Podcast – Trust us we are Systems Engineers“ zusammenfassen.

Warum grade MBSE?

Worum geht es? Tim, Autor und Vorstandsmitglied der oose e.G. und ich, MBSE & PLM Berater und Teamleiter bei CONTACT Software, sind beide Herzblut Systems Engineers. Mit dem Podcast begeben wir uns auf die Mission das Thema MBSE (Modellbasiertes Systems Engineering) in die Breite zu tragen. MBSE hat in den letzten zehn Jahren in Deutschland an Fahrt aufgenommen. D.h. es ist in vielen Branchen angekommen oder zumindest das Bewusstsein, dass Systems Engineering eine Schlüsselkompetenz für die Bewältigung steigender Komplexität interdisziplinärer Produktsysteme darstellt.

Jedoch ist eine Lösung für ein Komplexitätsproblem sicherlich selbst nicht ganz einfach. Dies trifft sehr gut auf das Thema MBSE zu. MBSE ist sehr facettenreich und für Neueinsteiger nicht sehr einfach zu erfassen: Methoden, Prozesse, Sprachen, Rollen, Architekturen, Frameworks, Tools und Ausbildung – um nur einige wenige zu nennen.

MBSE von A bis Z – für Einsteiger und Fortgeschrittene

An dieser Stelle setzen wir an, um das Thema in lockerer Atmosphäre Stück für Stück ausleuchten. Bücher, Trainings und Tools gibt es zur Genüge. In unserem Podcast möchten wir aber auch hinter die Kulissen schauen und das Wissen zwischen den Zeilen von Spezifikationen weitergeben. Wir profitieren dabei von unserem privaten und beruflichen Engagements bei der Gesellschaft für Systems Engineering (GfSE), dem International Council on Systems Engineering (INCOSE) und der Object Management Group (OMG). Damit sind wir sehr nah an aktuellen Entwicklungen im Bereich (MB)SE dran und stehen mit nationalen und internationalen Key-Playern aus Anwendung, Beratung, Forschung und Tools in engem Austausch.

Der Start des regelmäßigen Podcasts

Am 30. Oktober 2020 startete der Podcast mit einem Teaser auf YouTube. Die erste Inhaltliche Episode mit dem Titel „Die Geschichte der SysML“ folgte am 5. November 2020. Wir planen ein bis zwei Folgen pro Monat zu veröffentlichen.

Warum gerade auf YouTube?
Die Plattform bietet umfangreiche Infrastruktur für uns und denkbar einfachste Zugänglichkeit für Zuschauer.

Warum live?
Tim und ich betreiben den Podcast in unserer Freizeit. Uns fehlt schlichtweg die Zeit abendelang Folgen zu schneiden. Der Live-Stream und die danach verfügbare Aufzeichnung sind wie sie sind: 100 Prozent authentisch. In Zukunft planen wir auch eine Interaktion mit den Hörern via Live-Chat einzubinden.

Für alle, die einen Podcast lieber anhören, veröffentlichen wir neben YouTube die Audiospur auch auf Spotify und Apple Podcasts.

Risiken und Sicherheit – (k)ein Krisenthema?

Deutschland und fast alle anderen Länder stecken in der Krise! Binnen kürzester Zeit mussten wir erkennen, dass eine infektiöse organische Struktur mit einer Größe von wenigen Nanometern weltweit gigantische Schäden anrichtet und unser Leben gehörig auf den Kopf stellt. Wir realisieren plötzlich, wie verwundbar unser Dasein ist und wie unser eigenes Sicherheitsbedürfnis immer dann besonders deutlich in den Vordergrund tritt, wenn alles um einen herum nicht mehr selbstverständlich ist.

Die Geschichte lehrt uns, dass es egal ist, wie eine Katastrophe heißt – COVID-19, 9/11, Fukushima oder Tsunami, es gilt in jedem Fall Sicherheit und Risiken neu zu überdenken und zu bewerten. Denn ein zu viel an Sicherheit macht jedes System träge und schwerfällig. Im Gegensatz dazu bergen jedoch zu viele Risiken ein hohes Maß an Gefahren – nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt.

Die Betrachtung und Bewertung von Produktrisiken ist in der PLM-Welt ein altbekanntes Thema. Häufig wird Risikomanagement als lästiges Beiwerk empfunden, das im Wesentlichen dafür sorgt, viel Papier zu füllen. Der konkrete Mehrwert ist indes nicht immer unmittelbar ersichtlich. Hier hilft der Perspektivwechsel vom Produzenten zum Konsumenten: Unzählige Prüf- und Gütesiegel in jedem Bereich des täglichen Lebens stellen die Unbedenklichkeit im Umgang mit Produkten sicher, so zum Beispiel der TÜV für das Auto, das CE-Kennzeichen auf dem Notebook oder das GS-Siegel auf dem Bürostuhl. Keiner möchte darauf verzichten, dass das von ihm genutzte Produkt hinreichend sicher ist und er es ohne größere Risiken nutzen kann.

Für meine Beratungstätigkeit haben sich drei grundlegende Erkenntnisse herauskristallisiert:

  1. Das Undenkbare denken
    Wissenschaft und Technik geben uns immer mehr das Gefühl, dass uns nichts passieren kann. Diese Sicherheit kann aber trügerisch sein. Manchmal fühlen wir uns nur deswegen sicher, weil uns Risiken (noch) nicht bekannt sind oder wir sie falsch einschätzen.
  2. Man kann nicht so doof denken, wie es kommen kann
    Es wird nie möglich sein, jedes Risiko zu antizipieren und für alle Eventualitäten gerüstet oder gar versichert zu sein. Dennoch schult das Risikomanagement den Blick für mögliche Gefahren und effektive Gegenmaßnahmen. Sich in Nicht-Krisenzeiten regelmäßig Gedanken über Risiken zu machen und Parameter für Sicherheit auszuloten, trainiert Denkstrukturen und Handlungsmuster. Diese bilden in Konsequenz eine solide Basis für ein fundiertes Krisenmanagement.
  3. Not macht erfinderisch
    Unbekannte Situationen lähmen zwar zunächst das eigene Denken und Handeln, regen aber in Folge besonders die Kreativität an. Hier liegt enormes Potenzial für innovative und effiziente Ideen, wie mit vorhandenen Bordmitteln Großes bewirkt werden kann. So liegt in jeder Krise auch eine Chance auf Veränderung und Verbesserung.

Corona sorgt dafür, dass die goldene Mitte zwischen Sicherheit und Risiko in allen Lebensbereichen unter den gegebenen Parametern wieder einmal neu auszuloten ist. Vielleicht gelingt es durch die veränderten Sichtweisen sogar, auch das Risikomanagement im PLM positiver zu betrachten und der eigenen Kreativität sowohl bei der Einschätzung von Risiken wie auch bei der Entwicklung von sicheren Produkten freien Lauf zu lassen?

KI – Wo wir im Hype Cycle stehen und wie es weiter geht

Während sich der Anstieg der Forschungsartikel und Konferenzen im Bereich KI laut artificial intelligence index weiter fortsetzt, lässt sich in den Medien langsam eine gewisse Ermüdung angesichts des Hypes erkennen. Zeit also, Bilanz zu ziehen: Was ist erreicht worden? Was ist praktisch möglich? Und wie geht es weiter?

Was ist erreicht worden?

In den Jahren 2018 und 2019 wurden die vorher entwickelten Methoden zur Anwendung von neuronalen Netzwerken (so definiere ich hier KI) weiter verfeinert und perfektioniert. Standen zunächst (2012-2016, Imagenet-Wettbewerb) Verfahren zur Bildklassifizierung und -verarbeitung und danach Audio-Verfahren (2015-2017, Start von Alexa und anderen Sprachassistenten) im Mittelpunkt, wurden 2019 große Fortschritte in der Textverarbeitung und -generierung gemacht (NLP = natural language processing). Insgesamt sind die zur Verfügung stehenden Techniken mit hohem Aufwand vor allem der großen Player (Google, Facebook, OpenAI, Microsoft) weiter verbessert und kombiniert worden.

Was ist praktisch möglich?

Die Anwendung von KI ist im Wesentlichen immer noch begrenzt auf vier Anwendungsbereiche:

  • Bilder: Bilderkennung, -segmentierung
  • Audio: Umwandlung von Sprache in Text und umgekehrt
  • NLP: Textverarbeitung und -generierung
  • Labeled Data: Vorhersage des Labels (z.B. Preis) aus einer Menge von Featuren

Diese Liste ist überraschend kurz, gemessen an der Aufmerksamkeit, die KI in den Medien erhält. Die beeindruckendsten Erfolge von KI ergeben sich allerdings aus einer Kombination der Techniken wie z.B. Sprachassistenten durch Kombination von Audio, NLP und Labeled Data zur Umwandlung der Eingabe in Text, Erkennung der Textintention mit NLP und Vorhersage des Sprecherwunsches durch Anwendung von riesigen Mengen von Labeled Data, also vorherigen Auswertungen ähnlicher Äußerungen.

Entscheidend für die Entwicklung gerade dieser KI-Anwendungsfelder waren:

  1. Das Vorliegen großer Mengen frei verfügbarer Benchmark-Datensätze (Datensätze für Machine Learning), an denen Algorithmen entwickelt und verglichen wurden
  2. Eine große Forschergemeinde, die sich gemeinsam auf die Benchmark-Datensätze verständigt hat, und ihre Algorithmen in öffentlichen Wettbewerben vergleicht (GLUE, Benchmarks AI, Machine Translation u.a.)
  3. Eine freie Verfügbarkeit der entwickelten Modelle, die als Ausgangspunkt für den praktischen Einsatz dienen (beispielhaft Tensorflow Hub)

An Hand dieser Voraussetzungen kann man schnell einschätzen, wie realistisch manche Marketing-Fantasien sind. Z.B. gibt es für das oft plakativ vorgebrachte Einsatzgebiet Predictive Maintenance weder Benchmarkdatensätze noch eine Forschergemeinde und entsprechend auch keine Modelle.

Wie geht es weiter?

Es ist zum einen abzusehen, dass die weitere Entwicklung im KI-Bereich sicherlich zunächst in den vorgenannten Anwendungsfeldern weitergeht und sich an den Randbereichen weiterentwickelt. Zum anderen zeichnen sich Bereiche ab, die ähnlich wie die vorgenannten Einsatzgebiete unter Aufwendung großer öffentlicher und privater Mittel (z.B. werden OpenAI und Deepmind mit Milliardensummen von Elon Musk bzw. Google bezuschusst) vorangetrieben werden. Exemplarisch für große Investitionen in diesem Bereich steht sicher das autonome Fahren aber auch der Bereich IoT. Insgesamt sehe ich folgende Bereiche, die sich 2020-2022 stark weiterentwickeln:

  • Die Verbindung von Reinforcement Learning mit KI-Gebieten zum schnelleren Anlernen von Modellen
  • Eine weitere Verstärkung im Bereich autonomes Fahren, die sich aus der Anwendung und Kombination von KI und Reinforcement Learning ergibt
  • Durchbrüche in der Verallgemeinerung der Erkenntnisse aus der Bildverarbeitung auf 3D (Geometric Deep Learning und Graph Networks)
  • Eine Verschmelzung von traditionellen Methoden aus der Statistik mit neuronalen Netzwerken
  • IoT-Zeitreihen (s.u.)

Einen großen Wandel sehe ich durch das Aufkommen von IoT und der damit einhergehenden Sensorik und Daten auf uns zukommen. IoT-Daten sind ihrer Natur nach Zeitreihen, die zur Auswertung gefiltert, kombiniert, geglättet und angereichert werden müssen. Zu diesem Zweck ist bisher relativ wenig Spezifisches passiert. Es könnte sein, das ab 2020 – 2022 dieses Thema einige überraschende Wendungen und Durchbrüche für uns bereithält. Insbesondere die deutsche Industrie, die von den ersten Entwicklungen im Bereich KI eher wenig profitiert hat, dürfte hier ein vielversprechendes Einsatzgebiet finden.