Lean Compliance

Regelkonformität in der Produktentwicklung

Vor eine paar Monaten habe ich zu dem Thema Compliance einen Beitrag im Produktdatenjournal veröffentlicht. Das Thema ist „heiß“. So sieht beispielsweise die Ernst & Young Studie „Strategic Business Risk: 2008 – The Top 10 Risks for Global Business“ das Thema Compliance die Liste der zehn wichtigsten Unternehmensrisiken anführen. Versäumen Unternehmen, bestimmte Regeln einzuhalten, kann dies den Ausschluss von bestimmten Märkten und Ausschreibungen bedeuten („No data, no market“) oder durch die Produkthaftung substantielle juristische und finanzielle Folgen nach sich ziehen.

Dass dies mittlerweile sehr konkrete Risiken sind, bemerken wir bei vielen Unternehmen, in denen wir zu tun haben – eindrucksvoll zu sehen, welchen Stellenwert das Thema bekommen hat!

Zwar ist beispielsweise die ISO 9000 ein alter Hut, aber die aktuellen Dokumentations- und Qualitätsmanagementvorschriften  stellen heute deutlich konkretere Anforderungen an die Entwicklungsprozesse. Die Maschinenrichtlinie, FDA Vorschriften, die ISO/TS 16949 usw. lassen dabei zusammengenommen keine Branche verschont.

Fluch oder Segen?

Wie gehen Unternehmen damit um? Die Gefahr ist groß, sich vom Regen unter die Traufe zu stellen, stülpt man abstrakte Compliance-Anforderungen schematisch den eigenen Prozessen über. Wie kennen Beispiele, wo der Entwicklungsprozess sich durch eine Unzahl an Formularen dramatisch verlangsamt hat. Dabei behaupte ich: Viele Compliance-Vorschriften  sind im Kern für die Produktentwicklung ein Segen, weil sie auf eine „Good Manufacturing Practice“ zielen: transparente Prozesse und jederzeit einfach nachvollziehbare Ergebnisse. Ist das „ob“ keine Frage mehr, sollte das „wie“ umso sorgfältiger hinterfragt werden. Segensreich wird das Ganze nur dann, wenn

  • die Vorschriften „richtig“, d.h. passend zu den eigenen Prozessen und so schlank wie möglich interpretiert werden. In vielen Fällen lässt sich das „wie“ aus den Regelwerken oft nicht klar ableiten. Hier sind Unternehmen leider auf sehr dünn gesätes Expertenwissen angewiesen.
  • keine separaten Mechanismen verwendet werden, sondern Quality Gates, Deliverables, das Änderungs- und Konfigurationsmanagement usw. zum Diener zweier Herrn gemacht werden: des eigentlichen PEP und der Compliance-Anforderungen. Selbstredend bieten sich hier PLM Plattformen an …

Mein Fazit: Für Compliance-Berater, die Unternehmen aufzeigen,  wie sie so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können, brechen goldene Zeiten an.

Ein paar Gedanken zu einem unausgefüllten “P”

Dieses “P”, das ich meine, ist ein treuer Bekannter von uns allen. Es markiert den phonetisch knackigen Anfang von “PLM” und meint natürlich das “Product” in “Product Lifecycle Management”. Scheint mir also schon ein sehr dinghaft bezogenes Konzept zu sein, dieses PLM. Aber das finde ich eben viel zu kurz gegriffen.

 

Ohne “Process” kein “Product”

PLM-Konzepte sind in der Regel produktgetrieben. Sie haben Ihren Ursprung in Entwicklungsabteilungen und hatten in den guten alten Zeiten meist Ihren Ausgangspunkt in der Verwaltung von CAD-Daten. Heute stehen Produktstrukturen, Varianten und Konfigurationen im Brennpunkt. Dazu besitzen (gute) PLM-Konzepte eine sehr präzise Steuerungslogik, um den Reifegrad der Produkte kontinuierlich voranzutreiben – bis zum SOP, wo dann alles “i.O.” sein sollte.

Glücklicherweise sind auch die Zeiten vorbei, in denen dann das Entwicklungsergebnis über die hohe Mauer ‘rüber und der Produktion vor die Füße geworfen wurde. Aber einen deutlichen Bruch in den Konzepten und real existierender Dokumentation muss man dennoch festhalten: Wo finden wir denn die Produktions-, Logistik- und Prüfprozesse (…) ?

 

Nein, die Antwort lautet nicht ERP…

Wenn’s um Arbeitspläne, Lieferpläne, Versorgungskonzepte geht, sind ERP- / PPS- / SCM-Systeme, Leitstände, Kanban-Karten an der Reihe, stimmt’s? – Jein.

Ja: In diesen Systemwelten finden sich die operativ gelebten Abläufe mit Ihren Parametern (Bedarfen, Zeiten, …) und Kennzahlen (Ausbringung, Umschlagshäufigkeit, Liegezeiten, …) wieder.

Nein: In diesen Systemwelten werden die Prozesse aber nicht entwickelt! Denn sie haben nicht die Flexibilität und Beweglichkeit, die es in einer (frühen) Entwicklungsphase braucht (sonst gäbe es ja auch kein PLM).

Jawohl! Entwicklung! Nicht nur Produkte werden aus der Taufe gehoben und Schritt für Schritt zu Reife gebracht, parallel zu ihnen entstehen ebenso Schritt für Schritt die Herstellungsprozesse.

 

Entwicklung hat nicht nur mit Schrauben zu tun, PLM auch nicht

Parallel zur Produktentwicklung – und in enger Abstimmung – werden Prozesse entwickelt. Da wird an der Anlagenbelegung gefeilt, in verketteten Produktionsabläufen an den Taktzeiten und Arbeitsinhalten gedreht, da muss sich eine Werkslogistik Gedanken über Bevorratung und Lieferwege machen usw. usf. – Das alles ist weder neu noch überraschend – meine Frage: Warum dokumentiert man diese Entwicklungsthemen nicht auch ganz selbstverständlich in PLM?

In der Realität der Prozessentwicklung findet man die allgegenwärtigen Excel-Welten vor. Mehr oder minder geregelt werden Abzüge der Entwicklungsstückliste gezogen, umstrukturiert (die berühmte Produktionsstückliste erzeugt, wenn nicht im PLM abgebildet) und gegen die Prozesse gefahren. Prozess-Strukturen werden entworfen, Reihenfolgen definiert, Alternativen eingeplant…

Wenn Sie mich fragen: PLM Kernfunktionalität!

 

Let’s do PPLM!

Ich habe mir vorgenommen, in Zukunft nur noch “PPLM” zu sagen – tun Sie’s auch!

Was ich damit sagen will: Dass wir ganz grundsätzlich die Entwicklung von Produkt und Prozess verknüpfen und dokumentieren müssen. Und wenn wir das einmal geschafft haben, können wir uns auch auslandende Gedanken über Virtuelle Fabriken und durchgängige Informationsflüssen vom Reißbrett bis zur Drehbank machen (hatten wir übrigens schon mal in den 80ern).

PPLM-Systeme können parallele Strukturen miteinander verknüpfen und abgleichen. Das gilt für Entwicklungs- und Produktionsstücklisten genauso wie für Stücklisten und Prozessstrukturen.

 

Es lohnt sich

Haben wir einmal diesen Zusammenhang aufgebaut, machen wir uns das Leben gleich deutlich leichter. Nehmen wir als Beispiel nur das derzeitige Schreckensbild von der überbordenden Produktvarianz, die ja auch auf der Prozessseite abgefangen werden will: Im PPLM haben wir eine Konfigurationslogik, die Produkt- und Prozessvarianten ansteuert. D.h. wir können konsistente Konfigurationen beider Sichtweisen erzeugen und abprüfen (alle Teile in der Montage verplant? im Versorgungsplan? usw.).

Die Potenziale standardisierter Produkt- und Prozessbausteine hebe ich mir sogar lieber für einen eigenen Blog-Eintrag auf…

 

Die Möglichkeiten sind da – wir müssen’s nur tun. In diesem Sinne – die besten Wünsche für ein prozessorientiertes 2011!

Das Ende der (PLM) Geschichte?

CONTACT hat eine der größten Studien der letzten Jahre im deutschsprachigen Raum zum Thema Product Lifecycle Management (PLM) unterstützt. Von August bis September 2010 wurden durch RAAD Research dazu über 300 Führungskräfte, d. h. IT-Leiter, Entwicklungsleiter und Controlling-Verantwortliche aus der Fertigungsindustrie interviewt. Die Ergebnisse unter dem Titel „PLM – Entwicklung und Potenziale in Deutschland 2010“ liegen nun vor. Details finden sich z.B. hier.

Ein Ergebnis ist mir dabei besonders aufgefallen, fast bin ich versucht zu sagen „sauer aufgestoßen“. Die Zahlen in der Grafik stehen nur exemplarisch für weitere, unter dem

Strich ziemlich positive Einschätzungen der Situation rund um das Thema PLM. Frei nach Francis Fukuyama stehen wir danach kurz vor dem Ende der (PLM) Geschichte und sollten uns als Hersteller, Berater und PLM Beauftragte in den  Unternehmen demnächst besser nach anderen Aufgaben umsehen.

Nun haben wir und vielleicht auch Sie einen guten Einblick in die Praxis. Dabei ist mit Allem zu rechnen, aber nur in schönen Ausnahmefällen mit einer umfassenden, inhaltlich belastbaren und vom Management unterstützten PLM Strategie! Woher kommt also die Diskrepanz? Meine Vermutung: Das Thema PLM wird immer noch recht eng ausgelegt und die Verbindung von Entwicklung und Produktion mittels freigegebener Artikeln, Zeichnungen und  Stücklisten als der wesentliche PLM Baustein gesehen. Sinngemäß hätten die Interviewten demnach an den „Spatz in der Hand“, aber nicht an die Taube auf dem Dach gedacht.

Ich finden, die Zahlen oben sind eine schöne Provokation und ein Weckruf, noch besser für die Potentiale der PLM Idee verbunden mit modernen Entwicklungsmethoden, Werkzeugen und Schnittstellen zu werben. Oder ist die Idee doch schon viel weiter in der Praxis angekommen und die Zahlen sind der Tendenz nach stimmig?