Als ich vor Jahren das erste Mal von Agilität hörte, hatte ich zunächst den Eindruck, Prozesse und Regeln sollten über Bord geworfen werden, um volatile Anforderungen auf wundersame Weise im Handumdrehen realisieren zu können. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie das funktionieren soll: Agilität klang für mich nach unerfüllbarem Wunschkonzert.
Erst als unser damaliges Software-Entwicklungsteam anfing nach Scrum zu arbeiten – mit mir als Product Owner und begleitet durch einen erfahrenen Scrum Master – habe ich mich mit dem Thema ernsthaft auseinandergesetzt.
Ich lernte, dass Agilität nicht Chaos bedeutet, sondern ganz im Gegenteil lautete die
1. Lektion: Disziplin
Agiles Vorgehen hat Regeln. Die lernten wir in der vorausgehenden Scrum-Schulung. Vor allem aber legte unser Scrum Master uns sehr ans Herz, die Scrum-Regeln strikt einzuhalten, statt sie so auszulegen, wie es für uns am sinnvollsten erschien. Was ich gelernt habe: Agilität ist kein Laissez-faire, sondern bedarf eines sehr disziplinierten Vorgehens, das nur funktioniert, wenn es konsequent gelebt und nicht nach Bedarf verbogen wird.
2. Lektion: Der Sinn
Feste Rollen und Rituale sind nützlich. Wir hatten sie für Scrum zwar gelernt, aber echtes Verständnis wuchs erst nach und nach über das Coaching und die Fragen des Scrum Masters. Beispielweise wenn sich im Lauf eines Sprints herauskristallisierte, dass mehrere der vereinbarten User Storys nicht erreicht werden würden. Alle Teammitglieder versuchten natürlich, ihre eigene Aufgabe bestmöglich zu erledigen. Das hätte dazu geführt, dass die einzelnen User Storys zu nur 70% fertig werden würden. Der Scrum Master stellte zur Diskussion, stattdessen ein oder zwei User Storys für den Sprint zu verwerfen und bei der Fertigstellung der anderen mitzuhelfen. Was wir gelernt haben: Ergebnisorientierung und Fokussierung auf ein gemeinsames Ziel machen das Teamwork produktiver und die Teammitglieder zufriedener.
3. Lektion: Teamgeist
Je mehr wir den Sinn der Regeln, Rollen und Rituale verinnerlichten, desto effizienter wurden die Projekte. Das Team wuchs immer stärker zusammen und es entwickelte sich nicht nur ein gemeinsamer Fokus darauf das Ziel zu erreichen, sondern echter Zusammenhalt. Wo vorher Kollegen Unverständnis über die Arbeit der jeweils anderen geäußert hatten oder sich in Schuldzuweisungen übten, wusste nun jeder im Team, was die anderen machten und warum. Man half sich gegenseitig nach Kräften und vertraute einander immer mehr. Und da nachhaltiges Lernen vor allem über positive Emotionen funktioniert, war dies der Punkt, an dem wir wirkliches Verständnis für Agilität entwickelten.
Am Ende wurde mir klar, dass Agilität erst durch das Zusammenspiel von Regeln, Menschen und Motivation entsteht. Die hinter den Regeln stehenden agilen Werte zu verstehen, ist entscheidend. Sonst besteht die Gefahr – durch das Herausgreifen oder Zurechtbiegen einzelner Regeln auf die eigenen Bedürfnisse – mit dem agilen Ansatz zu scheitern.
Was nicht heißt, dass man die agilen Frameworks nicht anpassen oder selektiv anwenden darf. Aber erst, wenn man sie verstanden hat.
2 Gedanken zu „Agil scheinen oder agil sein?“