Keine Angst vor Blauen Briefen

Zu meiner Schulzeit, die zugegebenermaßen schon ein Weilchen zurückliegt, waren sie gefürchtet: Die Blauen Briefe, mit denen die Schule die Eltern oder uns selbst darüber in Kenntnis setzte (als ob wir das nicht längst schon wussten), dass unsere Versetzung mal wieder gefährdet war. Wieso überhaupt blau? Die Bezeichnung stammt laut Wikipedia aus dem 18. Jahrhundert, als königliche Anordnung in einem Papier blickdicht verpackt wurden, das oft aus Lumpen von Uniformröcken hergestellt wurde. Und diese Uniformen waren in Deutschland damals vorwiegend preußisch-blau.

Im Englischen spricht man gewöhnlich von einem Warning Letter oder einer Abmahnung, nicht zu verwechseln mit einem Drohbrief, wohl weil das mit der Lumpenfarbe nicht so klar war. Die Engländer waren als Rotröcke gefürchtet, während die Amerikaner mit blauen Röcken in den Unabhängigkeitskrieg und später dann in den Bürgerkrieg zogen – zumindest die Nordstaatler. Die Uniformen der Südstaatler  hatte eher die Farbe von Recyclingpapier. Warum ich Ihnen das alles erzähle? Weil gerade Sommerloch ist und es keine großen PLM-Schlagzeilen gibt.

Obwohl oder vielleicht gerade weil Briefe in der privaten Kommunikation kaum noch eine Rolle spielen, sind Blaue Briefe immer noch recht wirkungsvoll. Die Warning Letters der amerikanischen FDA (Food and Drug Administration) sind besonders gefürchtet, weil sie für die Geschäftsentwicklung der betroffenen Pharmaproduzenten oder Medizintechnikhersteller gravierende Auswirkungen haben können. Vor ein paar Monaten hat zum Beispiel Fresenius Medical Care selbst bekannt gegeben, eine Abmahnung der FDA erhalten zu haben, um gleich anzufügen, dass keine negativen Auswirkungen auf Umsatz und Gewinn für 2013 zu erwarten seien.

PLMblauerbrief
Mit freundlicher Genehmigung von Stuart Miles, www.FreeDigitalPhotos.net

Der Warning Letter an Fresenius bemängelte das Sterilisationsverfahren von Dialysefiltern in einer amerikanischen Produktionsstätte des Unternehmens. Nicht dass das Verfahren selbst Mängel aufwies – die Dokumentation der Verfahrenseinführung vor mehr als zehn Jahren entsprach nach Ansicht der FDA-Inspektoren nicht den so genannten cGMP (current Good Manufacturing Practices). Die US-Aufsichtsbehörde inspiziert übrigens nicht nur die Produktionsstätten in den Vereinigen Staaten, sondern überall da auf der Welt, wo Produkte für den nordamerikanischen Markt hergestellt werden. Auch Boehringer Ingelheim hat dieses Jahr einen Blauen Brief aus Silver Spring bekommen, weil die Inspektoren im Stammwerk in Ingelheim signifikante Verstöße gegen die cGMP feststellten.

Jetzt könnte man sagen, mit PLM wäre das alles nicht passiert, aber damit würde man es sich zu einfach machen. Die wachsende Flut an administrativen Vorschriften in einer Datenbank zu speichern, vielleicht sogar noch fein säuberlich zu strukturieren und zu klassifizieren, heißt ja noch nicht, dass sie bei der Produktentwicklung dann auch beachtet werden. Irgendwann im Entwicklungsprozess müssen sie in konkrete Anforderungen umgesetzt werden, und das lässt sich nicht so einfach automatisieren.

Wobei PLM aber sicher helfen kann, ist den Prozess sauber zu dokumentieren und mögliche Schwachstellen aufzudecken. Viel Zeit lässt die FDA den abgemahnten Unternehmen nämlich nicht: Binnen 15 Arbeitstagen müssen sie der Aufsichtsbehörde mitteilen, welche konkreten Schritte sie einzuleiten gedenken, um die Mängel abzustellen, und das auch entsprechend dokumentieren.

Die Regelkonformität (compliance) lässt sich natürlich auch ohne PLM nachweisen. Die Unternehmen der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie haben das auch vor der Einführung entsprechender IT-Systeme schon getan. PLM verspricht dabei aber erhebliche Zeit- und Kosteneinsparungen oder wie der Geschäftsführer eines renommierten Herstellers von Dentalprodukten, den ich kürzlich besuchte, sich ausdrückte: “Das gute alte Papier ist zwar auch noch dienlich, aber die meterlange Dokumentation würden wir gerne anders vorhalten. Und wir könnten viel Zeit sparen, wenn wir sie direkt austauschen könnten, statt sie wochenlang am Schreibtisch aufzubereiten.” Da müssen dann natürlich auch die Behörden mitspielen, die ihre Blauen Briefe noch mit Rückschein auf dem Postweg versenden.

Langzeitarchivierung – kurz beleuchtet

Der Produktlebenszyklus endet eigentlich nicht mit Verschrottung oder Recycling, sondern mit der Löschung der letzten Unterlage im (elektronischen) Archiv. Deshalb habe ich mich immer gefragt, warum die meisten PLM-Hersteller beim Thema Langzeitarchivierung so kleinlaut werden. Darüber könnte man doch stundenlang diskutieren.

 Leider ist das Thema zu lang und zu zeitraubend für einen Blog-Beitrag, also werde ich die Idee gleich wieder archivieren. Aber da fangen die Probleme schon an. Wie kann ich später nachweisen, dass es meine Idee war? Ich sollte sie unbedingt digital signieren, am besten mit einer qualifizierten elektronischen Signatur, aber dazu brauche ich erst mal ein Zertifikat und einen meiner Person zugeordneten Prüfschlüssel von einem autorisierten Zertifizierungsdienstleister. Also doch besser ausdrucken, unterschreiben und in den Papierordner abheften? Aber was mache ich mit den ganzen Emails, die ich für den Ideenaustausch genutzt habe?

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                                                                                    (Bild: iStock)

Und überhaupt, wie lange archiviert man Ideen eigentlich? Am besten mache ich sie schnell zu Geld, dann brauche ich die Unterlagen für das Finanzamt nur zehn Jahre aufzubewahren. Wenn ich ihr nämlich Flügel verleihe und sie abhebt, dann gelten bestimmt die strengen Regeln der Luftfahrtbehörden und sie landet lebenslänglich im Archiv. Gebrannt auf ein einmal beschreibbares und hoffentlich auch im 22. Jahrhundert noch ohne Glaskugel lesbares Medium. Wie DVDs und Laufwerke im Jahr 2112 wohl aussehen werden, frage ich mich? Wird es sie überhaupt in der heutigen Form noch geben?

 In welchem Format ich meine Idee archivieren soll, ist mir auch nicht ganz klar. Ich bringe sie gerade mit einem nicht mehr ganz taufrischen Texteditor zu Papier, pardon auf die Platte. Ob ich sie als doc.ument ohne X-tension in ein paar Jahrzehnten noch werde öffnen können, können mir nicht mal die aus Redmond sagen. Also besser in PDF konvertieren? Für das Konzept kein Problem, doch was mache ich mit den Flügeln, die meiner Idee wachsen? Das können ziemlich komplexe mechanische Gebilde sein; sie werden üblicherweise in 3D beschrieben, und dafür gibt es überhaupt noch kein langzeittaugliches Format.

 Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mit, dass das Thema Langzeitarchivierung eine Frage der Prozessorganisation ist. Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als meine Idee im Laufe ihres Archivlebens immer mal wieder in ein anderes Format zu konvertieren und auf ein aktuelleres Speichermedium zu migrieren. Doch wie weise ich hinterher nach, dass die Idee bei diesen Metamorphosen nicht verfälscht wurde? Ein Bekannter meinte neulich, ich solle meine ganze Dokumentenlogistik doch einfach mit PLM organisieren, dann könne ich jederzeit nachweisen, dass meine Prozesse regelkonform gewesen seien. Keine schlechte Idee. Ich muss ihn unbedingt fragen, wie er die archiviert hat und in welchem PLM-System. Hoffentlich in einem, das eine lange Zukunft hat.