Bummelzug zum Anforderungsmanagement

Es ist ein eisernes Gesetz aller modernen Gesellschaften, dass ihre politischen und bürokratischen Eliten immer mehr Gesetze produzieren. Mit wachsender Zahl nimmt der Grenznutzen der Gesetze zwangsläufig ab, wenn sie nicht gleich mehr Schaden als Nutzen anrichten, weil mit heißer Nadel gestrickt. Dessen ungeachtet ist die Regulierungswut dort am größten, wo sie am wenigsten bewirkt. Nirgendwo gibt es mehr Auflagen zum Umwelt- und Verbraucherschutz als in Europa, wo die Menschen nicht erst seit gestern unter relativ sauberen und sicheren Bedingungen leben. Oder anders ausgedrückt: In Bangladesch würde die Verschärfung des Baurechts sicher Menschenleben retten, hier sichert sie allenfalls den Lebensstandard von ein paar Beamten in den Baubehörden. Nicht selten ist die Regelungswut Ausdruck eigenen Unvermögens: Weil die Regierenden nicht in der Lage sind, den Waffenhandel der Rebellen in Afrika oder anderswo zu unterbinden, müssen jetzt die (amerikanischen) Unternehmen Bauteil für Bauteil nachweisen, dass sie keine Edelmetalle aus Krisenregionen verbauen.

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Mit freundlicher Genehmigung von Victor Habbick / FreeDigitalPhotos.net

Das Problem ist, dass der regulatorische Overkill der Politiker allmählich unsere Wettbewerbsfähigkeit und damit letztlich auch unserer aller Lebensstandard gefährdet. Egal wo man hinschaut – das Volumen an zu beachtenden Gesetzen und Normen ist in den letzten Jahren explodiert und damit auch der Aufwand, den die Unternehmen treiben müssen, um sie einzuhalten und gegenüber den Behörden den Nachweis ihrer Compliance zu erbringen.

Infolge der Regulierungswut werden die Lastenhefte immer dicker. Die Zahl der Anforderungen, die bei der Bearbeitung einer Spezifikation kommentiert werden müssen, habe sich in den letzten zehn Jahren mindestens verzehnfacht, sagte mir neulich der Manager eines Herstellers von Bremssystemen für Schienenfahrzeuge. Früher passte die Spezifikation auf eine CD, heute braucht man eine DVD, um alle Dokumente zu speichern. Aufgrund der vielen Köche unterschiedlicher Nationalitäten, die im Normierungsbrei herumrühren, sind  vielen Normen interpretationsbedürftig, so dass unterschiedliche Auftraggeber daraus individuelle Anforderungen ableiten. Das führt dazu, dass die Spezifikationen für ein Bremssystem bei Multitender-Projekten, bei denen mehrer Konsortien auf dasselbe Projekt bieten, von Hersteller zu Hersteller unterschiedlich sein können.

Obwohl ein globales Geschäft, müssen die Schienenfahrzeughersteller außerdem einen Haufen unterschiedlicher nationaler Normen berücksichtigen. Das führt zu der absurden Situation, dass der neue ICE in Deutschland mangels Zulassung noch nicht ausgeliefert werden kann, während er in Spanien schon fährt – und das mit einer höheren Geschwindigkeit als er sie hierzulande je erreichen darf. Nirgendwo sei es schwieriger, ein neues Schienenfahrzeug zuzulassen als in Deutschland, meinte mein Gesprächspartner. Der aufwendige papier- bzw. dokumentenbasierte Zulassungsprozess lähme das Unternehmen und bedeute einen Wettbewerbsnachteil gegenüber Anbietern in aufstrebenden Ländern mit weniger Auflagen und geringeren bürokratischen Hürden.

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Mit freundlicher Genehmigung von Victor Habbick / FreeDigitalPhotos.net

Aufgrund der Vielzahl an zu beachtenden Anforderungen und Normen wird der Abstimmungsprozess mit den Schienenfahrzeugherstellern immer zeitaufwendiger. In diesem Prozess müssen die Lieferanten zu jeder Anforderung Stellung nehmen und definieren, ob und unter welchen Bedingungen sie sie erfüllen werden. Das geht dann ein paar Mal hin und her, bis die Bestellung unterschriftsreif ist. Um die Abstimmung zu beschleunigen, hat der Hersteller von Bremssystemen vor anderthalb Jahren ein datenbankgestütztes Anforderungsmanagement eingeführt, das künftig in die PLM-Lösung integriert werden soll.

Dank des Requirements Interchange Formats (RIF) bzw. des neuen ReqIF-Formats ist es eigentlich kein Problem mehr, Anforderungen mit den Auftraggebern in elektronischer Form auszutauschen, selbst wenn diese eine andere IT-Lösung für das Anforderungsmanagement einsetzen. Leider können die meisten Hersteller ihre Spezifikationen noch nicht im richtigen Format zur Verfügung stellen und die Anforderungsdaten der Zulieferer auch noch nicht elektronisch weiter verarbeiten. Die Schienenfahrzeugindustrie fährt hier im Vergleich zu anderen Branchen mit dem Bummelzug. Selbst die Deutsche Bahn hat selbst erst vor kurzem ein datenbankgestütztes Anforderungsmanagement eingeführt.

Ich möchte deshalb an dieser Stelle ausdrücklich den Appell des Unternehmens an die Auftraggeber unterstützen, mit den Zulieferern beim Anforderungsmanagement an einem Schienenstrang zu ziehen. Sonst stehen bald noch mehr nagelneue Schienenfahrzeuge nutzlos auf dem Abstellgleis. Und an die Politiker sei bei der Gelegenheit der Appell gerichtet, bei der Normierung ab und zu mal die Notbremse zu ziehen und die eine oder andere nutzlose Norm auch wieder zu streichen.

Back to the Roots: Datenmanagement

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Bild. Dan, freedigitalphotos.net

Zugegeben: Das Ensemble aus Daten, Prozessen, Compliance-Richtlinien, Tool- und Systemintegration, Multidiziplinarität, Know-how Schutz usw. macht PLM kompliziert. Da kann es passieren, den Wald vor lauter Bäumen aus den Augen zu verlieren. Aber was ist denn erst mal das Wesentliche?

Jamie Gooch setzt zum Jahresauftakt in seinem Beitrag “Don’t Dismiss Data Duties – Take an active role in data management decisions before they are decided for you” in der aktuellen Ausgabe des Desktop Engineering ein Ausrufungszeichen hinter die Rolle des Produktdaten-Managements: “Chances are, someone has taken a look at the hodgepodge of data floating around your company – concepts, CAD models, test results, analyses, market intelligence, renderings – and decided to implement a way to organize it all. … If everyone in your company is using the data management system properly – whether it’s product data management, document management, product lifecycle management, or any other company-wide platform for organizing and sharing data – you’re way ahead of the game.

Die Praxis zeigt: Ja, das ist die Voraussetzung für alles weitere und verschafft alleine schon mal Zugang zu den „low hanging fruits“. Die große IPK/VDI Umfrage aus dem letzten Jahr hat das Potential dafür unterstrichen: 2/3 der befragten Ingenieure stehen 20% und weniger Zeit für die Kernaufgaben Entwickeln, Konstruieren und Absichern zur Verfügung!

Gooch dazu: “Properly implemented, supported and maintained, data management can drastically reduce design cycle times, reduce frustrations associated with engineering change orders, and ultimately improve your company’s time to market. Without the right guidance, those benefits can disappear. The need for data management isn’t going away. It’s only going to increase. You can take the lead or you can take your chances.”

Mit Big Bang zum Projekterfolg

Der Begriff Big Bang oder Urknall bezeichnet in der Kosmologie den Beginn unseres Universums – ein angeblich singuläres Ereignis. Angeblich deshalb, weil es vor schlappen 13,8 Milliarden Jahren ohne Augenzeugen stattfand (Einstein, Planck und Co. waren nur theoretisch anwesend) und möglicherweise gar nicht so singulär war. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass es vielleicht nur der Moment der maximalen Verdichtung von Materie, Raum und Zeit eines früheren Universums war, das ab da wieder zu expandieren anfing.

In unserer bescheidenen PLM-Welt verwendet man den Begriff Big Bang gerne für ein Vorhaben, bei dem eine umfassende PLM-Lösung auf einen Schlag an allen Standorten eines Unternehmens und/oder in allen Abteilungen, die in den Produktentstehungsprozess involviert sind, scharf geschaltet wird. Soweit die Theorie. In der Praxis gehen solchen Big Bang-Projekten meist monatelange Vorbereitungen mit aufwendigen Tests voraus, um das Risiko eines Fehlstarts zu minimieren. Und wie bei der PLM-Einführung in mehreren Projektschritten ist auch der Urknall im Erfolgsfall nur der Startschuss für die kontinuierliche Expansion des PLM-Universums.

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Mit freundlicher Genehmigung Victor Habbick, www.FreeDigitalPhotos.net

Gegen den Big Bang gab es früher viele Vorbehalte, insbesondere bei mittelständischen Unternehmen, weil die Projekte sich über die Gebühr in die Länge zogen. Ihr Lieblingsrezept für die PLM-Einführung lautete: Think big, but start small. Das ändert sich allerdings mit der Weiterentwicklung der PLM-Software, die dank modularer Architekturen, vorkonfigurierter Komponenten und leistungsfähiger Werkzeuge für die Entwicklung kundenspezifischer Anpassungen einfacher und schneller mit einem vergleichsweise großen Funktionsumfang ausgerollt werden können als vielleicht noch vor zehn Jahren. De facto ist der wachsende Funktionsumfang der Implementierungen der Grund dafür, dass sich die Projektlaufzeiten im Schnitt nicht wesentlich verkürzt haben.

Ob sich ein Unternehmen für den Big Bang oder eine Politik der kleinen Schritte entscheidet, hängt von vielen Faktoren ab. Wichtig sind zum einen die Rahmenbedingen: Ein Unternehmen mit global verteilten Entwicklungsstandorten, die bei Entwicklungsprojekten zusammenarbeiten sollen, wird nicht umhin kommen, über den gleichzeitigen Rollout der PLM-Lösung an allen Standorten nachzudenken. Zum anderen hängt die Entscheidung davon ab, wie weit der Istzustand vor der PLM-Einführung und der angestrebte Sollzustand auseinander liegen. Größere Veränderungen der Prozesslandschaft erfordern, wenn nicht den Big Bang, so doch einen größeren Sprung, um zu verhindern, dass das Projekt auf halbem Wege im Morast des Tagesgeschäfts stecken bleibt. Wer den Produktentstehungsprozess umgestalten möchte, kann sich nicht damit begnügen, erst einmal testweise ein CAD-Datenmanagement im Engineering zu implementieren.

Viele Unternehmen scheuen den Big Bang, nicht unbedingt weil das damit verbundene Risiko höher ist, sondern weil sie es schwerer einschätzen können und lieber auf Nummer sicher gehen. Das gilt vor allem für Unternehmen, in denen das Management dem Thema PLM nicht die Aufmerksamkeit schenkt, die es verdient. Wer mit knappen finanziellen Ressourcen und einer eher zufällig zusammen gewürfelten Truppe aufmarschiert, wird sich nur in kleinen Schritten an PLM heranpirschen. Big Bang-Projekte erfordern den unbedingten Rückhalt der Geschäftsleitung: “Es muss jemanden geben, der ein so großes Projekt auch mal über die kritischen Klippen hievt”, sagte mir vor ein paar Wochen  der Geschäftsführer eines Unternehmens, das gerade mit einem Kostenaufwand von mehreren Millionen Euro seine komplette CAD/CAM- und PLM-Lösung ausgewechselt hatte.

PLM-Projekte brauchen außerdem ein starkes und motiviertes Projektteam, unabhängig davon, ob das Unternehmen sich für die Big Bang-Ansatz oder eine Implementierung in kleinen Schritten entscheidet. Dazu gehören auch kompetente Ansprechpartner auf Seiten des Softwarelieferanten, die in den Lage sind, die Prozesse des Kunden zu verstehen und in der Software abzubilden. Aus den Teammitgliedern eine schlagkräftige Mannschaft zu formen und auf sie ein gemeinsames Ziel einzuschwören, ist Aufgabe der Projektleiter, deren Geschick über Erfolg oder Misserfolg des Projekts entscheiden kann.