Hintertürchen zur Collaboration

Engineering Collaboration, die Zusammenarbeit von Unternehmen bei der Produktentwicklung, ist eigentlich nichts Neues. Es gibt das Thema schon solange wie es das Outsourcing gibt. Umso verwunderlicher ist, dass die wesentliche Herausforderung bei der Collaboration immer noch einer Lösung harrt: Die Einbettung der unternehmensübergreifenden Austausch- und Abstimmungsprozesse in die PDM/PLM-Lösungen, mit denen die Produktentwicklung in den Unternehmen gesteuert wird.

An fehlenden Tools liegt es wahrlich nicht – im Gegenteil: die Landschaft der Collaboration-Anwendungen ist dank Cloud und Social Media eher noch bunter geworden. Das eigentliche Problem ist die Integration dieser Tools in die IT-Infrastrukturen und Geschäftsprozesse des jeweiligen Unternehmens. Aus Sicherheitsgründen scheuen

PLM_portal
Mit freundlicher Genehmigung Gualberto107 / FreeDigitalPhotos.net

 die IT-Spezialisten davor zurück, ihre Enterprise Anwendungen nach außen zu öffnen. Das führt oft zu der absurden Situation, dass Daten und Know-how im Unternehmen bombensicher sind, dann aber schnell mal per Email ausgetauscht werden, weil die Ingenieure ja irgendwie ihre Entwicklungsarbeit erledigen müssen. Und die verteilt sich heute nun mal über eine immer längere Supply Chain. Selbst in der sicherheitsbewussten Automobilindustrie tauschen 45 Prozent der Unternehmen ihre Produktdaten mit Auftraggebern und Zulieferern noch vorwiegend per Email aus. Da reiben sich neugierige Nachrichtendienste und andere Datenpiraten freudig die Hände.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Collaboration weiter zunimmt und immer globalere Züge annimmt, ist es vielleicht an der Zeit, mal über eine Neugewichtung nachzudenken. Das heißt mit anderen Worten: auf das letzte Quäntchen an innerer Sicherheit zu verzichten, indem man die PLM-Lösung gezielt für den Zugriff von außen öffnet, um dadurch Datensicherheit und Know-how-Schutz bei der Zusammenarbeit mit externen Partnern zu steigern. Insgesamt würde sich die Sicherheitsbilanz bei der verteilten Produktentwicklung dadurch spürbar verbessern. Man muss ja nicht gleich ein großes Portal aufreißen – mit einem Hintertürchen wäre den Projektverantwortlichen manchmal schon gedient.

Eine wesentliche Anforderung an eine solche Collaboration-Lösung ist, dass sie sowohl für die Auftraggeber, als auch für ihre Zulieferer von Nutzen ist. Allzu oft wurden in der Vergangenheit gerade im Automotive-Umfeld Lösungen implementiert, die die Last der Datenkommunikation einseitig den Partnern aufbürdete. Sie mussten für jeden Auftraggeber eine andere Anwendung implementieren und betreiben – oft ohne Integration in ihre Backend-Systeme. Die Daten wurden weitgehend von Hand in die Auftraggeber-Systeme eingepflegt.

Ganz wichtig ist natürlich auch, dass die Lösung unterschiedliche Szenarien der Zusammenarbeit unterstützt. Die Anforderungen bei einem Standardprozess wie zum Beispiel der Angebotseinholung (Request for Quotation) sind andere als bei einem gemeinsamen Entwicklungsprojekt, bei dem die Partner ihre Dateien idealerweise in eine gemeinsame Projektablage einstellen und dadurch die Arbeitsfortschritte online verfolgen. Asynchrone Workflows bieten die Möglichkeit, den Umfang an bereit gestellten Daten und PLM-Funktionen gezielt auf die Empfänger zuzuschneiden. Sie sind gewissermaßen das Hintertürchen der Collaboration, das man dann schrittweise zu einem Portal für die synchrone Zusammenarbeit bei Entwicklungsprojekten ausbauen kann.

Requirements Engineering besser integrieren

Das Anforderungsmanagement ist nach einhelliger Auffassung von Praktikern und von Fachleuten aus Forschung und Lehre das A und O des Systems Engineerings (SE). Dabei ist es nicht damit getan, die Anforderungen am Anfang der Systementwicklung einmalig zu erfassen und zu bewerten – sie können sich im Laufe der Entwicklung nämlich verändern und müssen deshalb über ihren gesamten Lebenszyklus einem konsequenten Änderungsmanagement unterworfen werden. Aus diesem Grunde plädieren viele PLM-Hersteller für die Einbettung des Anforderungsmanagements in das Product Lifecycle Management (PLM) bzw. die entsprechenden PLM-Lösungen, mit denen die mechanischen und mechatronischen Komponenten verwaltet werden, die diese Anforderungen letztlich in entsprechende Funktionen umsetzen.

Das Plädoyer klingt plausibel, lässt sich in der Praxis aber nicht so einfach befolgen. Zunächst einmal sind die Menschen, die sich in den Unternehmen mit der Erfassung, Bewertung und Dokumentation von Systemanforderungen beschäftigen, ein besonderer Schlag, der mit PLM (noch?) nicht viel anzufangen weiß. Wer sie näher kennen lernen möchte, dem sei der Besuch der REConf empfohlen – der europaweit bedeutendsten Tagung zum Thema Requirements Engineering (RE). Sie fand neulich zum 12. Mal in München statt, ohne dass die PLM-Welt davon groß Notiz nahm. Zu meinem Erstaunen waren unter den immerhin 40 Ausstellern nur zwei namhafte PLM-Hersteller zu finden, von denen sich einer noch dazu als ALM-Anbieter (Application Lifecycle Management) präsentierte.

Zugegebenermaßen spielt das Thema Prozessintegration und PLM für die RE-Gemeinde derzeit noch eine untergeordnete Rolle. Sie hat andere Prioritäten: Erst einmal geht es darum, RE überhaupt nachhaltig in der Unternehmen zu verankern. Obwohl fast alle Unternehmen heute zumindest in ausgewählten Projekten RE anwenden und die Methode auf eine wachsende Akzeptanz stößt, ist sie in den meisten Fällen noch nicht genügend etabliert, wie eine Anwenderbefragung von REConf-Veranstalter HOOD ergeben hat. Zum Teil hängt das damit zusammen, dass das Management RE zwar gerne nachhaltig in der Organisation verankern würde, aber dafür kein zusätzliches Budget locker macht.

grafik_hood2Der Ruf nach mehr Integration wird jedoch auch in der RE-Gemeinde lauter. Die Anwender, die an der Befragung teilnahmen, sind mit ihren RE-Tools nicht immer zufrieden. Sie wünschen sich bessere Schnittstellen zu den Werkzeugen und Systemen anderer Disziplinen, insbesondere zum Testmanagement, aber auch zu klassischen PLM-Funktionsbereichen wie Änderungsmanagement, Projektmanagement oder Dokumentengenerierung. Viele dieser Schnittstellen würden sich erübrigen, wenn man die Anforderungen direkt im PLM-Kontext erfasste und dokumentierte, aber das würde die etablierte Tool-Landschaft ziemlich über den Haufen werfen.

Wie sieht diese Landschaft aus? Die meist genutzten Anwendungen für RE und Anforderungsmanagement sind immer noch Excel und andere MS Office-Anwendungen, dicht gefolgt von IBM DOORS. Sie leisten den Anwendern zwar gute Dienste, weisen aber gerade in punkto Datenbankintegration und Prozessunterstützung Schwächen auf. Das erschwert zugleich den Austausch von Anforderungen zwischen Entwicklungspartnern, noch dazu wenn sie andere RE-Tools einsetzen. Abhilfe soll jetzt der ReqIF-Standard schaffen, den einige Tool-Hersteller bereits implementiert haben und den auch die PLM-Anbieter nutzen können, um Anforderungen standardbasiert aus den RE-Werkzeugen zu importieren bzw. an sie zu exportieren.

Denn eins ist klar: PLM wird die bestehenden RE-Werkzeuge auf absehbare Zeit nicht ersetzten, sondern allenfalls ergänzen. Einkauf, Entwicklung und anderen Abteilungen haben unterschiedliche Sichten auf die Anforderungen und nutzen unterschiedliche Anwendungen, um diese Sichten darzustellen. Wichtig ist jedoch aus Prozesssicht, dass zumindest die kritischen Anforderungen in der PLM-Umgebung wandern, um sie dort mit anderen Objekten verknüpfen und ihre Änderungsgeschichte nachvollziehen zu können. Dafür müssen die PLM-Anbieter neben eigenen Anforderungsmanagement-Funktionen entsprechende Integrationen bereit stellen.