Nachweispflicht mit Nebenwirkungen

“Show me the evidence” ist einer der Lieblingssätze, mit dem die Inspektoren der US Food & Drug Administration ihre Gesprächspartner in der Qualitätssicherung zum Schwitzen bringen, wenn sie Unternehmen der Medizintechnik-, Pharma- oder Lebensmittelindustrie visitieren. Im Unterschied zu unseren staatlich anerkannten Kontrolleuren, die sich ihre Aufsichtsdienste bezahlen lassen, ist die FDA eine vom amerikanischen Steuerzahler finanzierte US-Behörde mit Polizeigewalt. In den USA dürfen die Inspektoren sogar Waffen tragen – entsprechend selbstbewusst treten sie auf.

Während es bei der Zulassung von Pharmaka oder medizintechnischen Geräte vorrangig um die Produkteigenschaften geht, prüfen die Inspektoren von FDA und anderen Aufsichtsbehörden bei den Besuchen vor Ort, ob die Entwicklungs- und Fertigungsprozesse den common Good Manufacturing Practices (cGMP) entsprechen und keinen negativen Einfluss auf die Produktsicherheit haben können. Dabei verlassen sie sich nicht auf den Augenschein, sondern verlangen die Vorlage von Dokumenten. Was nicht aufgezeichnet ist kann auch nicht als Grundlage für die Auditierung dienen.

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Drei Trends führen dazu, dass das Volumen der vorzulegenden Dokumente in den letzten Jahren geradezu explodiert ist: Erstens werden die Produkte immer komplexer, gerade was ihre Schnittstellen zu anderen Systemen anbelangt; zweitens werden die Anforderungen der Aufsichtsbehörden von Jahr zu Jahr strenger. Und drittens wird die Normenlandschaft dadurch umfangreicher, dass Emerging Countries wie China anfangen, ihre eigenen Normen zu entwickeln, an die sich die Hersteller erst mal gewöhnen müssen.

Kürzlich war ich bei einem renommierten Medizintechnikhersteller, der vor wenigen Monaten eine neue Generation von Videoendoskopen vorgestellt hat. Die Dokumentation umfasst 35.000 Dateien oder 134 Papierordner – mehr als das Zehnfache dessen was noch für die Vorgängergeneration an Dokumenten vorgehalten werden musste. Wenn man sich vorstellt, dass die Dokumente bislang in einer filebasierten Ordnerstruktur verwaltet wurden, kann man sich den Aufwand für die Aufbereitung und Bereitstellung der Dokumentation leicht ausmalen. Die Ingeneure in Forschung & Entwicklung verbringen mehr Zeit damit, Dokumente zu erzeugen und zu pflegen als mit ihrer eigentlichen Entwicklungsarbeit.

Eine der größten Herausforderungen für das Unternehmen war und ist das Änderungsmanagement, da Artikelstammdaten, CAD-Dateien und Dokumente noch nicht alle miteinander verknüpft sind. Bei der Änderung eines Bauteils herauszufinden, in welchen Produkten es überall verbaut ist, ließ sich über das PDM- oder ERP-System noch bewerkstelligen. Aber zu wissen, welche Dokumente davon betroffen sind und vielleicht geändert werden müssen, war eine Detektivarbeit, die sehr viel Zeit und den Gehirnschmalz von erfahrenen Ingenieuren erforderte.

Die Integration von CAD-Daten- und Dokumentenmanagement in einer einheitlichen PLM-Lösung ist deshalb das O und O für eine effizientere Aufbereitung und Bereitstellung der Dokumentation und ihre Aktualisierung bei Änderungen. Nur wenn die Dokumente sauber klassifiziert und mit den Artikeln bzw. einer bestimmten Version verknüpft werden können, ist es möglich, sie zu bestimmten Zeitpunkten kontrolliert zusammenzuführen und bestimmte Reports zu generieren, beispielsweise für ein Audit.

Ein PLM-gestütztes Dokumentenmanagement ist das richtige Rezept für die Erfüllung der Nachweispflichten und die Optimierung anderer PLM-Prozesse, beispielsweise des Change-Managements. Es zu implementieren ist mit Aufwand verbunden – der betreffende Medizintechnikhersteller hat allein 220 verschiedene Dokumentenarten spezifiziert und in Vorlagen abgebildet. Der Aufwand verspricht allerdings riesige Rationalisierungseffekte wenn es gelingt, die erforderliche Dokumentation gewissermaßen auf Knopfdruck auszugeben.

Doch Vorsicht – Compliance ist rezeptpflichtig. Bei Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren PLM-Hersteller.

Keine Angst vor Blauen Briefen

Zu meiner Schulzeit, die zugegebenermaßen schon ein Weilchen zurückliegt, waren sie gefürchtet: Die Blauen Briefe, mit denen die Schule die Eltern oder uns selbst darüber in Kenntnis setzte (als ob wir das nicht längst schon wussten), dass unsere Versetzung mal wieder gefährdet war. Wieso überhaupt blau? Die Bezeichnung stammt laut Wikipedia aus dem 18. Jahrhundert, als königliche Anordnung in einem Papier blickdicht verpackt wurden, das oft aus Lumpen von Uniformröcken hergestellt wurde. Und diese Uniformen waren in Deutschland damals vorwiegend preußisch-blau.

Im Englischen spricht man gewöhnlich von einem Warning Letter oder einer Abmahnung, nicht zu verwechseln mit einem Drohbrief, wohl weil das mit der Lumpenfarbe nicht so klar war. Die Engländer waren als Rotröcke gefürchtet, während die Amerikaner mit blauen Röcken in den Unabhängigkeitskrieg und später dann in den Bürgerkrieg zogen – zumindest die Nordstaatler. Die Uniformen der Südstaatler  hatte eher die Farbe von Recyclingpapier. Warum ich Ihnen das alles erzähle? Weil gerade Sommerloch ist und es keine großen PLM-Schlagzeilen gibt.

Obwohl oder vielleicht gerade weil Briefe in der privaten Kommunikation kaum noch eine Rolle spielen, sind Blaue Briefe immer noch recht wirkungsvoll. Die Warning Letters der amerikanischen FDA (Food and Drug Administration) sind besonders gefürchtet, weil sie für die Geschäftsentwicklung der betroffenen Pharmaproduzenten oder Medizintechnikhersteller gravierende Auswirkungen haben können. Vor ein paar Monaten hat zum Beispiel Fresenius Medical Care selbst bekannt gegeben, eine Abmahnung der FDA erhalten zu haben, um gleich anzufügen, dass keine negativen Auswirkungen auf Umsatz und Gewinn für 2013 zu erwarten seien.

PLMblauerbrief
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Der Warning Letter an Fresenius bemängelte das Sterilisationsverfahren von Dialysefiltern in einer amerikanischen Produktionsstätte des Unternehmens. Nicht dass das Verfahren selbst Mängel aufwies – die Dokumentation der Verfahrenseinführung vor mehr als zehn Jahren entsprach nach Ansicht der FDA-Inspektoren nicht den so genannten cGMP (current Good Manufacturing Practices). Die US-Aufsichtsbehörde inspiziert übrigens nicht nur die Produktionsstätten in den Vereinigen Staaten, sondern überall da auf der Welt, wo Produkte für den nordamerikanischen Markt hergestellt werden. Auch Boehringer Ingelheim hat dieses Jahr einen Blauen Brief aus Silver Spring bekommen, weil die Inspektoren im Stammwerk in Ingelheim signifikante Verstöße gegen die cGMP feststellten.

Jetzt könnte man sagen, mit PLM wäre das alles nicht passiert, aber damit würde man es sich zu einfach machen. Die wachsende Flut an administrativen Vorschriften in einer Datenbank zu speichern, vielleicht sogar noch fein säuberlich zu strukturieren und zu klassifizieren, heißt ja noch nicht, dass sie bei der Produktentwicklung dann auch beachtet werden. Irgendwann im Entwicklungsprozess müssen sie in konkrete Anforderungen umgesetzt werden, und das lässt sich nicht so einfach automatisieren.

Wobei PLM aber sicher helfen kann, ist den Prozess sauber zu dokumentieren und mögliche Schwachstellen aufzudecken. Viel Zeit lässt die FDA den abgemahnten Unternehmen nämlich nicht: Binnen 15 Arbeitstagen müssen sie der Aufsichtsbehörde mitteilen, welche konkreten Schritte sie einzuleiten gedenken, um die Mängel abzustellen, und das auch entsprechend dokumentieren.

Die Regelkonformität (compliance) lässt sich natürlich auch ohne PLM nachweisen. Die Unternehmen der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie haben das auch vor der Einführung entsprechender IT-Systeme schon getan. PLM verspricht dabei aber erhebliche Zeit- und Kosteneinsparungen oder wie der Geschäftsführer eines renommierten Herstellers von Dentalprodukten, den ich kürzlich besuchte, sich ausdrückte: “Das gute alte Papier ist zwar auch noch dienlich, aber die meterlange Dokumentation würden wir gerne anders vorhalten. Und wir könnten viel Zeit sparen, wenn wir sie direkt austauschen könnten, statt sie wochenlang am Schreibtisch aufzubereiten.” Da müssen dann natürlich auch die Behörden mitspielen, die ihre Blauen Briefe noch mit Rückschein auf dem Postweg versenden.