Zugegeben: Das Ensemble aus Daten, Prozessen, Compliance-Richtlinien, Tool- und Systemintegration, Multidiziplinarität, Know-how Schutz usw. macht PLM kompliziert. Da kann es passieren, den Wald vor lauter Bäumen aus den Augen zu verlieren. Aber was ist denn erst mal das Wesentliche?
Jamie Gooch setzt zum Jahresauftakt in seinem Beitrag “Don’t Dismiss Data Duties – Take an active role in data management decisions before they are decided for you” in der aktuellen Ausgabe des Desktop Engineering ein Ausrufungszeichen hinter die Rolle des Produktdaten-Managements: “Chances are, someone has taken a look at the hodgepodge of data floating around your company – concepts, CAD models, test results, analyses, market intelligence, renderings – and decided to implement a way to organize it all. … If everyone in your company is using the data management system properly – whether it’s product data management, document management, product lifecycle management, or any other company-wide platform for organizing and sharing data – you’re way ahead of the game.
Die Praxis zeigt: Ja, das ist die Voraussetzung für alles weitere und verschafft alleine schon mal Zugang zu den „low hanging fruits“. Die große IPK/VDI Umfrage aus dem letzten Jahr hat das Potential dafür unterstrichen: 2/3 der befragten Ingenieure stehen 20% und weniger Zeit für die Kernaufgaben Entwickeln, Konstruieren und Absichern zur Verfügung!
Gooch dazu: “Properly implemented, supported and maintained, data management can drastically reduce design cycle times, reduce frustrations associated with engineering change orders, and ultimately improve your company’s time to market. Without the right guidance, those benefits can disappear. The need for data management isn’t going away. It’s only going to increase. You can take the lead or you can take your chances.”
Der Begriff Big Bang oder Urknall bezeichnet in der Kosmologie den Beginn unseres Universums – ein angeblich singuläres Ereignis. Angeblich deshalb, weil es vor schlappen 13,8 Milliarden Jahren ohne Augenzeugen stattfand (Einstein, Planck und Co. waren nur theoretisch anwesend) und möglicherweise gar nicht so singulär war. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass es vielleicht nur der Moment der maximalen Verdichtung von Materie, Raum und Zeit eines früheren Universums war, das ab da wieder zu expandieren anfing.
In unserer bescheidenen PLM-Welt verwendet man den Begriff Big Bang gerne für ein Vorhaben, bei dem eine umfassende PLM-Lösung auf einen Schlag an allen Standorten eines Unternehmens und/oder in allen Abteilungen, die in den Produktentstehungsprozess involviert sind, scharf geschaltet wird. Soweit die Theorie. In der Praxis gehen solchen Big Bang-Projekten meist monatelange Vorbereitungen mit aufwendigen Tests voraus, um das Risiko eines Fehlstarts zu minimieren. Und wie bei der PLM-Einführung in mehreren Projektschritten ist auch der Urknall im Erfolgsfall nur der Startschuss für die kontinuierliche Expansion des PLM-Universums.
Gegen den Big Bang gab es früher viele Vorbehalte, insbesondere bei mittelständischen Unternehmen, weil die Projekte sich über die Gebühr in die Länge zogen. Ihr Lieblingsrezept für die PLM-Einführung lautete: Think big, but start small. Das ändert sich allerdings mit der Weiterentwicklung der PLM-Software, die dank modularer Architekturen, vorkonfigurierter Komponenten und leistungsfähiger Werkzeuge für die Entwicklung kundenspezifischer Anpassungen einfacher und schneller mit einem vergleichsweise großen Funktionsumfang ausgerollt werden können als vielleicht noch vor zehn Jahren. De facto ist der wachsende Funktionsumfang der Implementierungen der Grund dafür, dass sich die Projektlaufzeiten im Schnitt nicht wesentlich verkürzt haben.
Ob sich ein Unternehmen für den Big Bang oder eine Politik der kleinen Schritte entscheidet, hängt von vielen Faktoren ab. Wichtig sind zum einen die Rahmenbedingen: Ein Unternehmen mit global verteilten Entwicklungsstandorten, die bei Entwicklungsprojekten zusammenarbeiten sollen, wird nicht umhin kommen, über den gleichzeitigen Rollout der PLM-Lösung an allen Standorten nachzudenken. Zum anderen hängt die Entscheidung davon ab, wie weit der Istzustand vor der PLM-Einführung und der angestrebte Sollzustand auseinander liegen. Größere Veränderungen der Prozesslandschaft erfordern, wenn nicht den Big Bang, so doch einen größeren Sprung, um zu verhindern, dass das Projekt auf halbem Wege im Morast des Tagesgeschäfts stecken bleibt. Wer den Produktentstehungsprozess umgestalten möchte, kann sich nicht damit begnügen, erst einmal testweise ein CAD-Datenmanagement im Engineering zu implementieren.
Viele Unternehmen scheuen den Big Bang, nicht unbedingt weil das damit verbundene Risiko höher ist, sondern weil sie es schwerer einschätzen können und lieber auf Nummer sicher gehen. Das gilt vor allem für Unternehmen, in denen das Management dem Thema PLM nicht die Aufmerksamkeit schenkt, die es verdient. Wer mit knappen finanziellen Ressourcen und einer eher zufällig zusammen gewürfelten Truppe aufmarschiert, wird sich nur in kleinen Schritten an PLM heranpirschen. Big Bang-Projekte erfordern den unbedingten Rückhalt der Geschäftsleitung: „Es muss jemanden geben, der ein so großes Projekt auch mal über die kritischen Klippen hievt“, sagte mir vor ein paar Wochen der Geschäftsführer eines Unternehmens, das gerade mit einem Kostenaufwand von mehreren Millionen Euro seine komplette CAD/CAM- und PLM-Lösung ausgewechselt hatte.
PLM-Projekte brauchen außerdem ein starkes und motiviertes Projektteam, unabhängig davon, ob das Unternehmen sich für die Big Bang-Ansatz oder eine Implementierung in kleinen Schritten entscheidet. Dazu gehören auch kompetente Ansprechpartner auf Seiten des Softwarelieferanten, die in den Lage sind, die Prozesse des Kunden zu verstehen und in der Software abzubilden. Aus den Teammitgliedern eine schlagkräftige Mannschaft zu formen und auf sie ein gemeinsames Ziel einzuschwören, ist Aufgabe der Projektleiter, deren Geschick über Erfolg oder Misserfolg des Projekts entscheiden kann.
Zu meiner Schulzeit, die zugegebenermaßen schon ein Weilchen zurückliegt, waren sie gefürchtet: Die Blauen Briefe, mit denen die Schule die Eltern oder uns selbst darüber in Kenntnis setzte (als ob wir das nicht längst schon wussten), dass unsere Versetzung mal wieder gefährdet war. Wieso überhaupt blau? Die Bezeichnung stammt laut Wikipedia aus dem 18. Jahrhundert, als königliche Anordnung in einem Papier blickdicht verpackt wurden, das oft aus Lumpen von Uniformröcken hergestellt wurde. Und diese Uniformen waren in Deutschland damals vorwiegend preußisch-blau.
Im Englischen spricht man gewöhnlich von einem Warning Letter oder einer Abmahnung, nicht zu verwechseln mit einem Drohbrief, wohl weil das mit der Lumpenfarbe nicht so klar war. Die Engländer waren als Rotröcke gefürchtet, während die Amerikaner mit blauen Röcken in den Unabhängigkeitskrieg und später dann in den Bürgerkrieg zogen – zumindest die Nordstaatler. Die Uniformen der Südstaatler hatte eher die Farbe von Recyclingpapier. Warum ich Ihnen das alles erzähle? Weil gerade Sommerloch ist und es keine großen PLM-Schlagzeilen gibt.
Obwohl oder vielleicht gerade weil Briefe in der privaten Kommunikation kaum noch eine Rolle spielen, sind Blaue Briefe immer noch recht wirkungsvoll. Die Warning Letters der amerikanischen FDA (Food and Drug Administration) sind besonders gefürchtet, weil sie für die Geschäftsentwicklung der betroffenen Pharmaproduzenten oder Medizintechnikhersteller gravierende Auswirkungen haben können. Vor ein paar Monaten hat zum Beispiel Fresenius Medical Care selbst bekannt gegeben, eine Abmahnung der FDA erhalten zu haben, um gleich anzufügen, dass keine negativen Auswirkungen auf Umsatz und Gewinn für 2013 zu erwarten seien.
Der Warning Letter an Fresenius bemängelte das Sterilisationsverfahren von Dialysefiltern in einer amerikanischen Produktionsstätte des Unternehmens. Nicht dass das Verfahren selbst Mängel aufwies – die Dokumentation der Verfahrenseinführung vor mehr als zehn Jahren entsprach nach Ansicht der FDA-Inspektoren nicht den so genannten cGMP (current Good Manufacturing Practices). Die US-Aufsichtsbehörde inspiziert übrigens nicht nur die Produktionsstätten in den Vereinigen Staaten, sondern überall da auf der Welt, wo Produkte für den nordamerikanischen Markt hergestellt werden. Auch Boehringer Ingelheim hat dieses Jahr einen Blauen Brief aus Silver Spring bekommen, weil die Inspektoren im Stammwerk in Ingelheim signifikante Verstöße gegen die cGMP feststellten.
Jetzt könnte man sagen, mit PLM wäre das alles nicht passiert, aber damit würde man es sich zu einfach machen. Die wachsende Flut an administrativen Vorschriften in einer Datenbank zu speichern, vielleicht sogar noch fein säuberlich zu strukturieren und zu klassifizieren, heißt ja noch nicht, dass sie bei der Produktentwicklung dann auch beachtet werden. Irgendwann im Entwicklungsprozess müssen sie in konkrete Anforderungen umgesetzt werden, und das lässt sich nicht so einfach automatisieren.
Wobei PLM aber sicher helfen kann, ist den Prozess sauber zu dokumentieren und mögliche Schwachstellen aufzudecken. Viel Zeit lässt die FDA den abgemahnten Unternehmen nämlich nicht: Binnen 15 Arbeitstagen müssen sie der Aufsichtsbehörde mitteilen, welche konkreten Schritte sie einzuleiten gedenken, um die Mängel abzustellen, und das auch entsprechend dokumentieren.
Die Regelkonformität (compliance) lässt sich natürlich auch ohne PLM nachweisen. Die Unternehmen der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie haben das auch vor der Einführung entsprechender IT-Systeme schon getan. PLM verspricht dabei aber erhebliche Zeit- und Kosteneinsparungen oder wie der Geschäftsführer eines renommierten Herstellers von Dentalprodukten, den ich kürzlich besuchte, sich ausdrückte: „Das gute alte Papier ist zwar auch noch dienlich, aber die meterlange Dokumentation würden wir gerne anders vorhalten. Und wir könnten viel Zeit sparen, wenn wir sie direkt austauschen könnten, statt sie wochenlang am Schreibtisch aufzubereiten.“ Da müssen dann natürlich auch die Behörden mitspielen, die ihre Blauen Briefe noch mit Rückschein auf dem Postweg versenden.