Beim Systems Engineering menschelt es

Wenn man verstehen will, warum Systems Engineering so in Mode ist, braucht man sich nur Produkte anzuschauen, mit denen wir uns täglich umgeben. Nicht nur im Automobil, sondern auch in Hausgeräten, medizintechnischen Apparaten oder Maschinen und Anlagen stecken immer mehr Funktionen, die durch Elektronik und Software gesteuert werden. Von elektronischen Konsumgütern ganz zu schweigen. Damit sind Elektronik und Software auch zur wichtigsten Ursache möglicher Fehler und Fehlfunktionen geworden.

Ein Beispiel? Mit meinem neuen Smartphone kann man kommunikationstechnisch so ziemlich alles machen, was man sich vorstellen kann – nur eines nicht: Telefonieren. Die Sprachqualität ist so hundsmiserabel, dass man sie nicht mal mit dem Umstand entschuldigen kann, dass es sich um ein vergleichsweise kostengünstiges Einsteigermodell handelt. Im Vergleich dazu bietet selbst mein dummes altes Finnen-Handy geradezu HiFi-Klangqualität. Nun frage ich mich natürlich, wer dieses Desaster zu verantworten hat?

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Immer mehr funktionsfähige Mobiltelefone werden ausrangiert. (Bild: iStocks)

Schuld bin natürlich in erster Linie ich selbst, weil ich die Katze im Sack gekauft habe bzw. den wohlwollenden Kritiken bei Amazon & Co. vertraut habe. Die waren bestimmt gesponsert. Aber in welchem Handyladen kann man die Geräte überhaupt noch testen? Geschweige den so ein ausgefallenes Gerät wie mein Dual Sim-Handy, das die Möglichkeit bietet, parallel zwei SIM-Karten zu betreiben. (Na ja, nicht wirklich parallel, wie ich inzwischen weiß). So ein Gerät scheuen die Provider wie der Teufel das Weihwasser, weshalb man sie auch nie im normalen Sortiment findet.

Der Hauptschuldige ist allerdings der Hersteller, dessen koreanischen Namen ich an dieser Stelle verschweigen möchte. Oder genauer gesagt, die Produktentwickler des betreffenden Unternehmens, die das Systems Engineering, das heißt die interdisziplinäre Entwicklung von komplexen mechatronischen oder cybertronischen Produkten wohl noch nicht so ganz beherrschen. Wobei kurioserweise die cybertronischen Systemkomponenten, die mein Handy wunderbar mit anderen Systemen vernetzen, wesentlich besser funktionieren als so banale Bauteile wie Mikrofon oder Lautsprecher. Von der Kameralinse ganz zu schweigen, die man getrost vergessen kann.

An welcher Stelle im Systems Engineering-Prozess das Desaster bei der Sprachübertragung meines Handys seinen Ausgang nahm, ist mir nicht ganz klar. Ich vermute mal schon im Requirements Engineering bzw. bei der Definition der Testkriterien zur Absicherung der Anforderungen. Vielleicht haben die Systemingenieure auch bei der Modellierung der Systemarchitektur mit SysML übersehen, dass sie die vorhandenen Systemfunktionen für die Sprachübertragung in einem neuen Kontext nicht einfach wieder verwenden können, sondern simulieren müssen, ob sie Zusammenspiel mit den neuen Funktionen noch ihren Dienst versehen. Dabei sollte doch klar sein, dass ein leistungsfähiges Konfigurationsmanagement der Schlüssel zur Wiederverwendung der SE-Artefakte darstellt.

Ich möchte an dieser Stelle also mal einen Engineering Change Request stellen, mit der Bitte, die Funktionen zur Sprachübertragung meines Handys in der nächsten Generation deutlich zu verbessern. Sonst muss ich schon wieder den Hersteller wechseln, was immer mit einem riesigen Aufwand für die Datenmigration verbunden ist. Nicht dass ich große Hoffnungen hege, dass mein ECR zügig in einen Änderungsantrag einfließen wird. Und selbst wenn, dann hätte die Änderung wahrscheinlich ungeahnte Folgen für andere Systemfunktionen. Dann könnte man vielleicht wieder wunderbar telefonieren, aber nicht mehr so gut navigieren.

Ein Tipp an den Hersteller: Um die Auswirkungen von solchen Änderungen frühzeitig beurteilen zu können, müssten die Werkzeuge und Methoden des Systems Engineering nahtlos in die PLM-Umgebung integriert werden, mit der die Änderungsprozesse gesteuert werden. Das weiß man zwar, aber davon sind die meisten Unternehmen noch ziemlich weit entfernt. Oder wie einer meiner Gesprächspartner neulich sagte: “Human Based Systems Systems Engineering machen wir schon lange. Jetzt geht es darum, in den IT-Systemen bzw. den zugrunde liegenden Modellen die Traceablílity zu erreichen.”

PLM-Einführung ist ein Mannschaftssport

Man sollte meinen, dass die PLM-Einführung dank vorkonfigurierter Software-Lösungen und standardisierter Middleware-Technologie für die Integration der Anwendungen einfacher geworden sei. Wenn man einigen Herstellern glauben darf, funktionieren ihre Lösungen sozusagen out of the box, das heißt man braucht sie nur noch auszupacken und einzuschalten. Leider sieht die Realität anders aus: „Der Leidensdruck hat eher noch zugenommen“, urteilte Prof. Martin Eigner der auf dem diesjährigen PROSTEP iViP-Symposium einen Workshop zum Thema „Future PLM“ koordinierte. Im Rahmen dieses Workshops wurden die Teilnehmer aus der Automobil- und Luftfahrtindustrie befragt, wo sie der Schuh am meisten drückt: Ein wunder Punkt ist und bleibt die Implementierung, das heißt die vielen Systeme, Schnittstellen, Migrationen oder Inkompatibilitäten.

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Der Grund für den scheinbaren Widerspruch ist relativ simpel: Zwar lassen sich die PLM-Lösungen heute einfacher und schneller implementieren, aber gleichzeitig haben Umfang und Komplexität der Implementierungen deutlich zugenommen, weil die Lösungen mehr leisten und mehr leisten sollen als noch vor zehn Jahren. Die Kunden sind anspruchsvoller geworden: Es geht nicht mehr nur ein bisschen lokale CAD-Datenverwaltung, sondern um die Unterstützung des gesamten Entwicklungsprozesses unter Einbeziehung verschiedener Disziplinen (Stichwort Mechatronik-Entwicklung), Standorte und gegebenenfalls auch der externen Partner. Das untermauern die anspruchsvollen PLM-Projekte, die heute in der Industrie realisiert werden.

Vor kurzem habe ich einen renommierten Automobilzulieferer besucht, der gerade seine alte Zeichnungsverwaltung durch eine umfassende PLM-Lösung ersetzt hat. Multi-CAD-Datenmanagement, Stammdatenverwaltung mit ERP-Anbindung, Dokumentenmanagement mit Office- und Email-Integrationen, Projektverwaltung, Freigabe- und Änderungswesen etc. wurden auf einen Schlag an mehreren Standorten weltweit eingeführt, weil die Anwender bei vielen Projekten standortübergreifend zusammenarbeiten. Ein riesiger Berg an CAD-Daten und anderen Unterlagen musste dazu in die neue PLM-Umgebung übernommen werden, was natürlich mehr Zeit in Anspruch nahm als geplant. Der Aufwand für die Datenmigration wird bei PLM-Implementierungen immer noch gerne unterschätzt.

PLM-Projekte dieser Größenordnung mit Beteiligten aus unterschiedlichen Abteilungen, Standorten und Ländern und Kulturkreisen erfordern ein effizientes Projektmanagement, um sie erfolgreich umzusetzen. Der Zusammenhalt des Projektteams, der Rückhalt im Management und die kompetente Unterstützung durch den Systemlieferanten sind wichtige Erfolgsfaktoren. Als ich den Projektleiter fragte, was er beim nächsten Mal anders machen würde, sagte er, er würde es stärker in Teilprojekte mit separaten Projektverantwortlichen unterteilen, um die parallel laufenden Aktivitäten besser koordinieren zu können. Und er würde die ausländischen Kollegen noch frühzeitiger ins Boot holen. Ein gut funktionierendes Team ist für den Projekterfolg fast wichtiger als die beste Software, so einfach sie auch zu implementieren sein mag. Und der gemeinsame Erfolg stärkt das „Wir-Gefühl“ im Unternehmen – über die PLM-Implementierung hinaus.

Zielsicheres Projektmanagement

Vor ein paar Monaten habe ich ein kleines, mittelständisches Unternehmen bei der Analyse seiner Informationsflüsse unterstützt. Eine sehr erfolgreiche Firma, die elektroakustische Geräte für renommierte Kunden in der Luftfahrtindustrie, Verkehrstechnik und im Öffentlichen Dienst herstellt. Sie muss eine riesige Zahl an Produkten und Varianten managen, weil die Geräte immer wieder kundenspezifisch angepasst werden: Hier ein anderer Stecker, hier ein längeres Kabel, hier ein unterschiedlicher Schallwandler.

Die Mitarbeiter ertrinken in einer Flut an kleinen Aufträgen/Projekten, mit dem Erfolg, dass innovative Neuentwicklungen über dem Tagesgeschäft oft auf der Strecke bleiben. Und dass obwohl viele Projekte heute schon an der Entwicklung vorbei direkt in die Arbeitsvorbereitung wandern. Wie viele Projekte gerade laufen, in welchem Status sie sich befinden, wie rentabel sie sind und ob genügend Ressourcen für neue Aufträge frei sind, weiß eigentlich niemand so genau. Nicht einmal die Geschäftsleitung.

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Nach meiner Einschätzung ist das kein Einzelfall, sondern aufgrund der wachsende Produktvielfalt in vielen Unternehmen die Realität. Ohne eine effizientere Steuerung und Kontrolle der Projekte (Controlling) laufen diese Unternehmen Gefahr, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen und sich im Unterholz der Projektabwicklung zu verirren. Ein einfaches Projektmanagement (PM), das alle Vorhaben mit Verantwortlichen, Terminen und geschätztem Reifegrad erfasst, würde schon für eine bessere Übersicht sorgen. Auf Dauer reicht es natürlich nicht aus, um Projekte erfolgreich durch die Untiefen eines kreativ-chaotischen Entwicklungsprozesses zu steuern.

Anders als bei einem Bauvorhaben, bei dem der Plan im Prinzip steht und “nur” noch umgesetzt werden muss, was aufgrund der Vielzahl der beteiligten Gewerke schon schwierig genug ist, entsteht der Plan bei einem Entwicklungsvorhaben ja erst: CAD-Modelle, Zeichnungen und anderen Unterlagen sind nicht der Input für, sondern der Output des Projektmanagements. Ohne Kenntnis der Arbeitsfortschritte und ihres Reifegrads kann man also nicht zuverlässig beurteilen, ob das Projekt hinsichtlich Terminen und Kosten im grünen Bereich ist oder gerade aus dem Ruder läuft. Das Projektmanagement muss Termine, Kosten und Qualität der Lieferobjekte (deliverables) gleichermaßen ins Lot bringen.

Ein solches, ergebnis- und produktorientierte Projektmanagement hebt die Trennung zwischen Projektmanagement und der eigentlichen Projektarbeit auf, was unter anderem bedeutet, dass jeder Projektmitarbeiter auch Steuerungsaufgaben übernimmt. Das erfordert zum einen ein Umdenken in der Organisation und die Etablierung einheitlicher Vorgehensweisen bei der Projektabwicklung, die flexibel anpassbar sein müssen, um dem Spannungsfeld zwischen Kreativität und Systematisierung gerecht zu werden. Zum anderen sind PM-Werkzeuge erforderlich, die die Steuerungsfunktionen in derselben Umgebung bereitstellen, in der die Projektmitarbeiter den Lifecycle und Reifegrad ihre Arbeitsergebnisse managen. Oder einfach ausgedrückt: Das Projektmanagement gehört ins PLM, und zwar nicht als nettes Zusatztool, sondern als zentrales Werkzeug für die Steuerung und Kontrolle von Entwicklungsvorhaben.