Es ist ein eisernes Gesetz aller modernen Gesellschaften, dass ihre politischen und bürokratischen Eliten immer mehr Gesetze produzieren. Mit wachsender Zahl nimmt der Grenznutzen der Gesetze zwangsläufig ab, wenn sie nicht gleich mehr Schaden als Nutzen anrichten, weil mit heißer Nadel gestrickt. Dessen ungeachtet ist die Regulierungswut dort am größten, wo sie am wenigsten bewirkt. Nirgendwo gibt es mehr Auflagen zum Umwelt- und Verbraucherschutz als in Europa, wo die Menschen nicht erst seit gestern unter relativ sauberen und sicheren Bedingungen leben. Oder anders ausgedrückt: In Bangladesch würde die Verschärfung des Baurechts sicher Menschenleben retten, hier sichert sie allenfalls den Lebensstandard von ein paar Beamten in den Baubehörden. Nicht selten ist die Regelungswut Ausdruck eigenen Unvermögens: Weil die Regierenden nicht in der Lage sind, den Waffenhandel der Rebellen in Afrika oder anderswo zu unterbinden, müssen jetzt die (amerikanischen) Unternehmen Bauteil für Bauteil nachweisen, dass sie keine Edelmetalle aus Krisenregionen verbauen.
Das Problem ist, dass der regulatorische Overkill der Politiker allmählich unsere Wettbewerbsfähigkeit und damit letztlich auch unserer aller Lebensstandard gefährdet. Egal wo man hinschaut – das Volumen an zu beachtenden Gesetzen und Normen ist in den letzten Jahren explodiert und damit auch der Aufwand, den die Unternehmen treiben müssen, um sie einzuhalten und gegenüber den Behörden den Nachweis ihrer Compliance zu erbringen.
Infolge der Regulierungswut werden die Lastenhefte immer dicker. Die Zahl der Anforderungen, die bei der Bearbeitung einer Spezifikation kommentiert werden müssen, habe sich in den letzten zehn Jahren mindestens verzehnfacht, sagte mir neulich der Manager eines Herstellers von Bremssystemen für Schienenfahrzeuge. Früher passte die Spezifikation auf eine CD, heute braucht man eine DVD, um alle Dokumente zu speichern. Aufgrund der vielen Köche unterschiedlicher Nationalitäten, die im Normierungsbrei herumrühren, sind vielen Normen interpretationsbedürftig, so dass unterschiedliche Auftraggeber daraus individuelle Anforderungen ableiten. Das führt dazu, dass die Spezifikationen für ein Bremssystem bei Multitender-Projekten, bei denen mehrer Konsortien auf dasselbe Projekt bieten, von Hersteller zu Hersteller unterschiedlich sein können.
Obwohl ein globales Geschäft, müssen die Schienenfahrzeughersteller außerdem einen Haufen unterschiedlicher nationaler Normen berücksichtigen. Das führt zu der absurden Situation, dass der neue ICE in Deutschland mangels Zulassung noch nicht ausgeliefert werden kann, während er in Spanien schon fährt – und das mit einer höheren Geschwindigkeit als er sie hierzulande je erreichen darf. Nirgendwo sei es schwieriger, ein neues Schienenfahrzeug zuzulassen als in Deutschland, meinte mein Gesprächspartner. Der aufwendige papier- bzw. dokumentenbasierte Zulassungsprozess lähme das Unternehmen und bedeute einen Wettbewerbsnachteil gegenüber Anbietern in aufstrebenden Ländern mit weniger Auflagen und geringeren bürokratischen Hürden.
Aufgrund der Vielzahl an zu beachtenden Anforderungen und Normen wird der Abstimmungsprozess mit den Schienenfahrzeugherstellern immer zeitaufwendiger. In diesem Prozess müssen die Lieferanten zu jeder Anforderung Stellung nehmen und definieren, ob und unter welchen Bedingungen sie sie erfüllen werden. Das geht dann ein paar Mal hin und her, bis die Bestellung unterschriftsreif ist. Um die Abstimmung zu beschleunigen, hat der Hersteller von Bremssystemen vor anderthalb Jahren ein datenbankgestütztes Anforderungsmanagement eingeführt, das künftig in die PLM-Lösung integriert werden soll.
Dank des Requirements Interchange Formats (RIF) bzw. des neuen ReqIF-Formats ist es eigentlich kein Problem mehr, Anforderungen mit den Auftraggebern in elektronischer Form auszutauschen, selbst wenn diese eine andere IT-Lösung für das Anforderungsmanagement einsetzen. Leider können die meisten Hersteller ihre Spezifikationen noch nicht im richtigen Format zur Verfügung stellen und die Anforderungsdaten der Zulieferer auch noch nicht elektronisch weiter verarbeiten. Die Schienenfahrzeugindustrie fährt hier im Vergleich zu anderen Branchen mit dem Bummelzug. Selbst die Deutsche Bahn hat selbst erst vor kurzem ein datenbankgestütztes Anforderungsmanagement eingeführt.
Ich möchte deshalb an dieser Stelle ausdrücklich den Appell des Unternehmens an die Auftraggeber unterstützen, mit den Zulieferern beim Anforderungsmanagement an einem Schienenstrang zu ziehen. Sonst stehen bald noch mehr nagelneue Schienenfahrzeuge nutzlos auf dem Abstellgleis. Und an die Politiker sei bei der Gelegenheit der Appell gerichtet, bei der Normierung ab und zu mal die Notbremse zu ziehen und die eine oder andere nutzlose Norm auch wieder zu streichen.