Alte Hüte, moderne Mützen

Man sollte meinen, das Thema PDM/ERP-Schnittstelle sei ein alter Hut, der an der PLM-Garderobe verstaubt. Ist aber nicht so. Es gibt immer noch Firmen, die Materialdaten und Stücklisten trotz PDM-Einsatz von Hand ins ERP-System eingeben. Und es sind nicht unbedingt die kleinsten – im Gegenteil: Manchmal hat man den Eindruck, als mittelständischen Maschinen- und Anlagenbauer, was die IT-technische Verzahnung von Einkaufs-, Entwicklungs- und Fertigungsprozessen angeht, weiter als manches Großunternehmen. Zumindest gehen Mittelständler das Thema pragmatischer an: Viele haben im Zuge der PDM/ERP-Integration ohne lange Diskussionen entschieden, dass Materialstämme und Stücklisten im PDM-System „erfunden“ werden. Und siehe da, es funktioniert.

Interessanterweise ist das Thema PDM/ERP-Integration selbst für Unternehmen, die bereits ein hohes Maß an Prozessdurchgängigkeit erreicht haben, aktueller denn je. Um die wachsende Zahl von kundenspezifischen Aufträgen mit tendenziell kleiner werdenden Losgrößen flexibler durch den Produktionsprozess zu schleusen, benötigen sie umfassendere Schnittstellen-Funktionen, die es erlauben, die Informationen in beiden Systemwelten kontinuierlich zu synchronisieren und nach Möglichkeit in Echtzeit auf sie zuzugreifen. Ein heißes Eisen ist in diesem Zusammenhang das systemübergreifende Änderungs-Management, denn es geht darum, einen stringenten und sicheren Prozess von der ersten Bedarfsmeldung für eine technische Änderung bis zur Umsetzung in der Produktion zu gewährleisten.

Neue Anforderungen ergeben sich auch durch den Ausbau der PDM-Systeme zu umfassenderen PLM-Lösungen, mit denen zum Beispiel die Entwicklungsaufgaben verteilt und terminiert, die Aufwände erfasst und die Arbeitsfortschritte kontrolliert werden. Um Projekte von der Angebotserstellung bis zur Auslieferung durchgängig steuern zu können, muss die Auftragsverwaltung im ERP-System mit dem Projekt-Management der PLM-Lösung verknüpft werden, insbesondere was den Abgleich von Cost und Work Breakdown Structures anbelangt. Hersteller von variantenreichen Produkten, die mögliche Produktkonfigurationen PLM-seitig definieren, benötigen die hinterlegten Regeln auch für die Erzeugung der auftragsspezifischen Stücklisten im ERP-System. Das heißt mit anderen Worten, dass zwischen beiden Systemwelten mehr Informationen als bisher ausgetauscht und bei Änderungen synchronisiert werden müssen..

Sowohl die Unternehmen, als auch die Softwarehersteller und ihre Systemintegratoren treiben einen erheblichen Aufwand, um dieses Mehr an Funktionalität in proprietären Schnittstellen abzubilden. Dabei wird das Rad oft neu erfunden. Mit Blick auf die Gesamtkosten für Anschaffung, Betrieb und Wartung der Integrationslösungen ist dieser Aufwand eigentlich nicht zu rechtfertigen. Wir brauchen mehr Standardisierung, nicht im Sinne einer PDM/ERP-Integration von der Stange, sondern in Form von Best Practices und standardisierten Schnittstellen-Funktionen, die sich entsprechend den Prozessanforderungen des Kunden und den Möglichkeiten der eingesetzten PDM- und ERP-Systeme einfach konfigurieren lassen. Das Forschungsinstitut für Rationalisierung der RWTH Aachen hat deshalb zusammen mit Partnern aus Verbänden und der Industrie ein Forschungsprojekt gestartet, das die Produktionssysteme durch Integration der IT-Strukturen und Dezentralisierung der Produktionssteuerung und -planung wandlungsfähiger machen soll. Gefördert wird das WInD-Projekt von Bundesministerium für Forschung und Bildung. Ein wichtiges Teilprojekt ist die Schaffung prozessorientierter Standard-Schnittstellen, sowohl zwischen ERP- und PDM-, als auch zwischen ERP- und MES-Systemen.

Bewegung für mehr PLM-Offenheit

„Und sie bewegt sich doch“, möchte man mit dem italienischen Mathematiker Galileo Galilei ausrufen, als er seiner Lehre von der Erdbewegung um die Sonne vor der Inquisition abschwören musste. Dummerweise ist berühmte Ausspruch eine Erfindung. Die PLM-Welt ist nach Jahren des Stillstands, in denen die Allianzen zwischen Systemherstellern und OEMs fest zementiert schienen, in Bewegung geraten. Erst hat sich Chrysler, dann Daimler für den Wechsel von Catia auf NX entschieden, und auch andere OEMs denken laut über die Neuordnung ihrer PLM-Landschaften nach.

Die neue Beweglichkeit der OEMs hat viele Ursachen, aber eine Gemeinsamkeit lässt sich zweifellos ausmachen: Alle treibt die Sorge um, die Verfügungsgewalt über ihre Produktdaten zu verlieren. Den Stein ins Rolle brachte nach Meinung vieler Insider PLM-Hersteller Dassault Systèmes mit der Vorstellung von Catia V6, in der die CAD-Daten praktisch nur noch auf dem Umweg über das integrierte PDM-System ENOVIA zugänglich sind. Dabei machen die Franzosen eigentlich nichts, was andere große PLM-Hersteller nicht auch gerne machen würden. Das Problem ist nur, dass ihre Kunden das nicht mehr mit sich machen lassen.

Der Ruf nach mehr Offenheit der PLM-Systeme ist unüberhörbar geworden. Automobilhersteller und Zulieferer wollen ihre heterogenen Systemlandschaften einfacher und flexibler integrieren, um die wachsende Komplexität der Produktentwicklung besser beherrschbar zu machen. Führende OEMs haben deshalb im April dieses Jahres eine Initiative zur Schaffung eines Codex of PLM Openness ins Leben gerufen. Ihr Ziel ist es, bestimmte Mindestanforderungen an die Offenheit von PLM-Werkzeugen und -Lösungen zu formulieren und die Anbieter dazu zu bewegen, sie einzuhalten.

Aufgehängt ist die Initiative in einem Arbeitskreis des ProSTEP iViP-Vereins, dem hochkarätige Vertreter von BMW, Daimler, Volkswagen/Audi und Ford angehören. Koordiniert werden ihre Aktivitäten von Gerhard Seidenfaden, einem „alten Hasen“ aus dem Stall von Daimler, der als heute als Berater über die notwendige Unabhängigkeit verfügt. Der Arbeitskreis wird zunächst ein Memorandum of Understanding mit den Kernforderungen der OEMs erarbeiten, die dann in einem erweiterten Kreis mit Vertretern von Zulieferern und Systemlieferanten diskutiert werden sollen, um bis zum Jahresende ein verbindliches Dokument zu verabschieden. Ein sportliches Ziel.

Es geht bei der Initiative nicht darum, Systemlieferanten wegen mangelnder Offenheit an den Pranger zu stellen. Man wolle gemeinsam mit ihnen einheitliche Eckpunkte für den Zugang zu Systemen und Daten definieren, die als Grundlage für spätere vertragliche Vereinbarungen dienen können, betont Dr. Steven Vettermann, Geschäftsführer des ProSTEP iViP-Vereins. Zwar reden alle von Offenheit, aber was heißt das eigentlich? Weder die OEMs, die mehr Offenheit einfordern, noch die Vendoren, deren Systeme angeblich alle offen sind, verstehen darunter das Gleiche. Was glauben Sie – Ist eine proprietäre API, für die Third-Party-Anbieter oder Kunden auch noch Lizenzgebühren zahlen müssen, nun eigentlich offen oder nicht?

Der Arbeitskreis will keine Schnittstellen oder Formate vorgeben, sondern auf einer relativ abstrakten Ebene festlegen, welche Informationen für eine nahtlose Integration der Systeme und Prozesse benötigt werden. Die Systemhersteller sollen sich freiwillig dazu verpflichten, diesen gemeinsamen Nenner in ihren Systemen umzusetzen. Wie die Einhaltung des Kodex kontrolliert und Verstöße geahndet werden sollen, ist noch nicht ganz klar – der Arbeitskreis setzt hier auf das Feedback der Anwendergemeinde. „Es ist nicht Ziel des Vereins, den TÜV für Systemoffenheit zu spielen“, so Vettermann.

Und wie reagieren die Systemanbieter auf die Initiative für mehr Offenheit? Laut Vettermann erstaunlich offen. Begrüßt wird sie natürlich besonders von den neutralen PLM-Herstellern, die selbst kein CAD-System anbieten und bisher enorme Klimmzüge machen müssen, um an die Informationen zu gelangen, die sie für eine gute Integration der jeweiligen CAD-Systeme benötigen.

Bleibt abzuwarten, ob die OEMs es schaffen, ihre Partikularinteressen hintan zu stellen und sich wirklich auf einen einheitlichen Anforderungskatalog zu verständigen. Sonst haben wir am Ende zig herstellerspezifische PLM Codices, was dem Ziel, einen gemeinsamen Nenner für die Offenheit zu finden, nicht förderlich wäre. Doch was meinen Sie – lässt sich ein solcher Codex of PLM Openness überhaupt durchsetzen?

Das Spiel mit den PLM-Marktzahlen

Die amerikanische Marktforschungsfirma CIMdata veranstaltete unlängst in Stuttgart Ihr diesjähriges PLM Vendor Forum, um die deutsche Anbietergemeinde über die aktuellen Markttrends zu informieren. Ihren Zahlen zufolge wuchs der weltweite PLM-Markt im Jahr 2010 um 9,7 Prozent und erreichte ein Volumen von 25,8 Milliarden US-Dollar. Schwellenländer, neue Branchen jenseits der Fertigungsindustrie und der Trend zu ökologischer Produktentwicklung bieten den PLM-Herstellern laut CIMdata weiterhin gute Wachstumschancen.

CIMdata teilt den PLM-Markt grundsätzlich in drei Kategorien ein, nämlich Tools (CAD, CAM, CAE, AEC, EDA etc.), Digital Manufacturing und collaborative Product Development management (cPDm), das heißt Lösungen für das Lifecycle-Management von Daten und Prozessen. Während der PLM-Gesamtmarkt (einschließlich Bauwesen und Elektronik-Design) den Schätzungen der Marktforscher zufolge um 9,7 Prozent auf 25,8 Milliarden US-Dollar wuchs, legte das cPDM-Segment um 10,1 Prozent zu und erreichte ein Volumen von 8,73 Milliarden US-Dollar. Etwas schwächer fiel das Wachstum im Geschäft mit den Tools aus, in dem insgesamt 16,3 Milliarden US-Dollar umgesetzt wurden. Das Digital Manufacturing-Geschäft konnte auch 2010 die Wachstumshoffnungen nicht erfüllen und erreichte nur 474 Millionen US-Dollar (plus 5 Prozent).

Die stärksten Zuwächse verzeichnete das PLM-Geschäft 2010 im asiatisch-pazifischen Raum, der im Rezessionsjahr 2009 allerdings auch den stärksten Einbruch hatte hinnehmen müssen. Nord- und Südamerika liegen weiterhin knapp vor der Region EMEA (Europa und Naher Osten). Ein etwas anderes Bild ergibt sich, wenn man nur den so genannten Mainstream-PLM-Markt (ohne EDA, AEC, CASE und reine cPDm-Lösungen) betrachtet: Hier dominiert die Region EMEA mit einem Marktanteil von etwa 40 Prozent. Der Mainstream-Markt erreichte im letzten Jahr ein Wachstum von 8,5 Prozent und ein Volumen von 16,3 Milliarden US-Dollar.

Das Wachstum des PLM-Gesamtmarktes wurde im Jahr 2010 stärker durch den Verlauf neuer Software-Lizenzen als durch das Servicegeschäft getrieben. Nach Einschätzung von CIMdata wird das in den nächsten Jahren eine Welle von Folgeinvestitionen in Dienstleistungen auslösen. Insbesondere das cPDM-Geschäft ist nach wie vor sehr Service-lastig. Im Schnitt erwirtschaften die Anbieter 60 Prozent ihrer Umsätze mit Dienstleistungen, wobei der Serviceanteil bei den reinen cPDm-Anbietern kurioserweise deutlich niedriger liegt (23 Prozent), während Systemintegratoren und Wiederverkäufer ihr Geld hauptsächlich damit verdienen, was auch nicht weiter verwunderlich ist. CIMdata erwartet für das cPDm-Geschäft in den nächsten fünf Jahren ein durchschnittliches Wachstum von 9,3 Prozent pro Jahr.

Was die Rangliste der weltweit größten PLM-Anbieter anbelangt, so gibt es keine großen Überraschungen, vor allem wenn man berücksichtigt, dass hier die Umsätze mit Tools wie CAD einfließen. Nach der Übernahme der PLM-Vertriebsorganisation von IBM ist Dassault die Nummer eins, gefolgt von Autodesk, Siemens PLM Software, PTC, SAP und Oracle. Neu ist nur, dass CIMdata Autodesk in die Gruppe der so genannten PLM Mindshare Leader aufgenommen hat, da das Unternehmen sich nicht mehr nur als Tool-Anbieter versteht. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass die Firma den Löwenanteil ihrer Umsätze nach wie vor mit CAD-Tools generiert. Ordnet man die Rangliste nach den PLM-Umsätze schieben sich die drei großen EDA-Anbieter Synpsys, Cadence und Mentor Graphics unter die ersten zehn und auch IBM taucht als PLM-Serviceanbieter wieder auf.

Wenig Nutzen aus Anwendersicht
CIMdata hat sich angewöhnt, die Marktzahlen entsprechend den Wünschen der PLM-Anbieter aufzubereiten. Womit sich mir die Frage stellt, welchen Nutzen sie eigentlich für die Anwender von PLM-Lösungen haben? Meines Erachtens keinen großen, weil sich die der Markterhebung zugrunde liegende PLM-Definition einseitig an den Interessen der großen Softwareanbieter mit ihrem Bauchladen von Werkzeugen orientiert und nicht an den Kundenanforderungen hinsichtlich des Product-Lifecycle-Managements. Ich habe noch keinen Anwender getroffen, der mir auf die Frage nach seiner PLM-Strategie geantwortet hätte, er führe gerade ein neues 3D-CAD-System ein. Wohl aber, dass er mit seinem PDM-System künftig auch die Vertriebs- und Serviceprozesse unterstützen möchte.

Der Kunde sucht keinen Anbieter von möglichst vielen PLM-Tools, sondern einen Hersteller, der vielleicht gar keine eigenen Autorenwerkzeuge anbietet, aber dafür in der Lage ist, den Lebenszyklus seiner Produkte möglichst durchgängig, das heißt im Idealfall von der Angebotsphase bis zum Recycling zu unterstützen. Der eine offene Systemumgebung bietet, die mit anderen Unternehmensanwendungen integrierbar ist oder sie vielleicht sogar ersetzen kann. Was nützt ihm da eine Rangliste, in der unter den zehn führenden PLM-Anbietern vier oder fünf große Tool-Entwickler aufgeführt sind, deren eigentliches PLM Portfolio nur ein Add On ist?

Ich will damit sagen: Die vorherrschende PLM-Definition, die unter dem Oberbegriff auch alle Produktdaten erzeugenden Anwendungen subsumiert, gehört dringend auf den Prüfstand. Und wenn schon Autorensysteme, warum nicht auch MS Word oder Excel, mit denen Unmengen von produktrelevanten Informationen erzeugt und zum Teil schon mit PDM-Unterstützung verwaltet werden? Dann wäre halt Microsoft die Nummer eins im PLM-Markt.