Industrie 4.0 braucht smarte Produkte

Die vierte industrielle Revolution kann die Produktivität der deutschen Wirtschaft bis zum Jahr 2025 um mindestens 78 Milliarden Euro steigern. Das behauptet eine Untersuchung, die das Fraunhofer IAO im Auftrag des Hightech-Verbands BITKOM durchgeführt hat (als PDF downloaden). Die Betonung liegt auf dem Wörtchen „kann“: Es handelt sich nicht um eine statistisch abgesicherte Prognose, sondern um die Einschätzung des Wachstumspotentials in ausgewählten Branchen durch verschiedene Branchenexperten.

Für die erfolgreiche Umsetzung von Industrie 4.0 müssen eine Reihe von Voraussetzungen technischer, organisatorischer und normativer Natur gegeben sein – so die Studie. Eine Revolution, die Normen voraussetzt, statt sie außer Kraft zu setzen? Das ist wieder mal typisch deutsch, möchte man spotten. Kein Wunder, dass hierzulande noch jede Revolution gescheitert ist, geschweige denn dass wir je eine Revolution erfolgreich exportiert hätten. Wir erlauben Revolutionären allenfalls die Durchreise in plombierten Waggons, damit sie andernorts umstürzlerisch tätig werden. Und dass sich Angela Merkel als deutsche Jeanne d‘ Arc an die Spitze dieser Umsturzbewegung stellt, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Das ist ungefähr so als wäre Louis XVI im Juli 1789 auf den Balkon von Versailles getreten und hätte zum Sturm auf die Bastille aufgerufen.

Quelle: Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0 von acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften e.V.

Wenn ich, was die Erfolgsaussichten von Industrie 4.0 anbelangt, skeptisch bin, dann aber aus einem anderen Grund: Das von der Bundesregierung initiierte Zukunftsprojekt oder das, was davon bislang an die Öffentlichkeit dringt, ist für meinen Geschmack viel zu einseitig auf die Produktion d.h. die intelligente Vernetzung der Fertigungs- und Logistikprozesse fokussiert. Da sind wir in Deutschland eigentlich ganz gut aufgestellt. Die intelligente Fabrik ist zweifellos wichtig, weil wir aufgrund der Individualisierung unserer Produkte bei kleiner werdenden Stückzahlen hohe Anforderungen an die Flexibilisierung der Produktionsprozesse haben. Aber sie reicht nicht aus. Was nutzt uns eine noch so intelligente Fabrik, wenn wir darin dumme Produkte fertigen, die keiner mehr haben will?

Prof. Martin Eigner, einer der Autoren des bei acatech veröffentlichten Diskussionspapiers zum Thema Smart Engineering (als PDF downloaden), hat das in einem Gespräch am Rande des ProSTEP iViP-Symposiums neulich auf den Punkt gebracht: „Ohne intelligente Produkte gibt es keine Industrie 4.0. Unser Problem in Deutschland ist nicht die Fertigung, sondern dass wir dafür neue Produkte und Geschäftsmodelle generieren müssen.“

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich finde es begrüßenswert, dass die vierte industrielle Revolution mit Forschungsgeldern in Milliardenhöhe gefördert wird. Nur befürchte ich, dass viele dieser Gelder in die falschen Projekte investiert werden. Industrie 4.0 tut nämlich den zweiten Schritt vor dem ersten: Bevor wir uns darüber Gedanken machen, wie sich Produkte intelligenter fertigen lassen, sollten wir uns erst einmal überlegen, wie wir es schaffen, smartere Produkte zu entwickeln. Produkte, die über das Internet of Things (IoT) miteinander kommunizieren und dadurch neue Dienstleistungsangebote und Geschäftsmodelle ermöglichen. Das ist der Denkansatz, den die Amerikaner verfolgen. Mit wie viel Intelligenz diese smarten Produkte dann gefertigt werden, wird auch davon abhängen, wo auf der Welt die Fertigung angesiedelt ist. Ich glaube nämlich nicht, dass es uns dank noch so intelligenter Fabriken gelingen wird, beispielsweise die Handy-Fertigung nach Europa zu holen. Je mehr Varianz in einem Produkt über die Software abgebildet werden kann, desto einfacher lassen sich die mechanischen Komponenten in Großserie fertigen und montieren. Und dafür muss eine Fabrik nicht besonders schlau sein.

Das IoT bedeutet eine große Herausforderung für die Innovationsfähigkeit der Unternehmen. Sie müssen in der Lage sein, komplexe mechatronische Systeme zu entwickeln, die über das Internet miteinander kommunizieren. Und sie müssen diese cyberphysischen Systeme um innovative Dienstleistungen ergänzen, die gegebenenfalls ihre bestehenden Geschäftsmodelle in Frage stellen. Dafür benötigen sie einerseits leistungsfähige Werkzeuge und Methoden für die interdisziplinäre Produktenwicklung und für ein systematisches Innovationsmanagement; andererseits müssen sie ihre Innovations- und Entwicklungsprozesse neu strukturieren.

Wenn die vierte industrielle Revolution nicht im Engineering ansetzt, wo meines Erachtens der größere Handlungsbedarf besteht, ist sie zum Scheitern verurteilt. Dann wird Industrie 4.0 ebenso schnell wieder vergessen sein wie die selige CIM-Philosophie vor 30 Jahren. Hier für Nostalgiker zur Erinnerung noch mal die CIM-Definition der Society of Manufacturing Engineers (SME): CIM is the integration of total manufacturing enterprise by using integrated systems and data communication coupled with new managerial philosophies that improve organizational and personnel efficiency. Das ist nicht weit von der Idee der digitalen Fabrik entfernt. Nur dass es das Internet als Plattform für ihre Vernetzung damals noch nicht gab. Aber genau wie damals fehlen auch heute wieder die Standards. Ohne solche Standards – so die eingangs erwähnte BITKOM-Studie – ist die freie, problemlose Austauschbarkeit von Industrie 4.0-Komponenten nach dem Prinzip des „Plug and Produce“ nicht denkbar.

Hintertürchen zur Collaboration

Engineering Collaboration, die Zusammenarbeit von Unternehmen bei der Produktentwicklung, ist eigentlich nichts Neues. Es gibt das Thema schon solange wie es das Outsourcing gibt. Umso verwunderlicher ist, dass die wesentliche Herausforderung bei der Collaboration immer noch einer Lösung harrt: Die Einbettung der unternehmensübergreifenden Austausch- und Abstimmungsprozesse in die PDM/PLM-Lösungen, mit denen die Produktentwicklung in den Unternehmen gesteuert wird.

An fehlenden Tools liegt es wahrlich nicht – im Gegenteil: die Landschaft der Collaboration-Anwendungen ist dank Cloud und Social Media eher noch bunter geworden. Das eigentliche Problem ist die Integration dieser Tools in die IT-Infrastrukturen und Geschäftsprozesse des jeweiligen Unternehmens. Aus Sicherheitsgründen scheuen

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Mit freundlicher Genehmigung Gualberto107 / FreeDigitalPhotos.net

 die IT-Spezialisten davor zurück, ihre Enterprise Anwendungen nach außen zu öffnen. Das führt oft zu der absurden Situation, dass Daten und Know-how im Unternehmen bombensicher sind, dann aber schnell mal per Email ausgetauscht werden, weil die Ingenieure ja irgendwie ihre Entwicklungsarbeit erledigen müssen. Und die verteilt sich heute nun mal über eine immer längere Supply Chain. Selbst in der sicherheitsbewussten Automobilindustrie tauschen 45 Prozent der Unternehmen ihre Produktdaten mit Auftraggebern und Zulieferern noch vorwiegend per Email aus. Da reiben sich neugierige Nachrichtendienste und andere Datenpiraten freudig die Hände.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Collaboration weiter zunimmt und immer globalere Züge annimmt, ist es vielleicht an der Zeit, mal über eine Neugewichtung nachzudenken. Das heißt mit anderen Worten: auf das letzte Quäntchen an innerer Sicherheit zu verzichten, indem man die PLM-Lösung gezielt für den Zugriff von außen öffnet, um dadurch Datensicherheit und Know-how-Schutz bei der Zusammenarbeit mit externen Partnern zu steigern. Insgesamt würde sich die Sicherheitsbilanz bei der verteilten Produktentwicklung dadurch spürbar verbessern. Man muss ja nicht gleich ein großes Portal aufreißen – mit einem Hintertürchen wäre den Projektverantwortlichen manchmal schon gedient.

Eine wesentliche Anforderung an eine solche Collaboration-Lösung ist, dass sie sowohl für die Auftraggeber, als auch für ihre Zulieferer von Nutzen ist. Allzu oft wurden in der Vergangenheit gerade im Automotive-Umfeld Lösungen implementiert, die die Last der Datenkommunikation einseitig den Partnern aufbürdete. Sie mussten für jeden Auftraggeber eine andere Anwendung implementieren und betreiben – oft ohne Integration in ihre Backend-Systeme. Die Daten wurden weitgehend von Hand in die Auftraggeber-Systeme eingepflegt.

Ganz wichtig ist natürlich auch, dass die Lösung unterschiedliche Szenarien der Zusammenarbeit unterstützt. Die Anforderungen bei einem Standardprozess wie zum Beispiel der Angebotseinholung (Request for Quotation) sind andere als bei einem gemeinsamen Entwicklungsprojekt, bei dem die Partner ihre Dateien idealerweise in eine gemeinsame Projektablage einstellen und dadurch die Arbeitsfortschritte online verfolgen. Asynchrone Workflows bieten die Möglichkeit, den Umfang an bereit gestellten Daten und PLM-Funktionen gezielt auf die Empfänger zuzuschneiden. Sie sind gewissermaßen das Hintertürchen der Collaboration, das man dann schrittweise zu einem Portal für die synchrone Zusammenarbeit bei Entwicklungsprojekten ausbauen kann.

Innovationen managen – Flops vermeiden

Der Erfolg hat viele (Mütter und) Väter, der Misserfolg ist immer ein Waisenkind, lautet eine englische Redewendung. Leider ist sie missverständlich. Der Misserfolg hat nämlich mindestens ebenso viele Väter wie der Erfolg, nur dass sie normalerweise den Vaterschaftstest verweigern. Das gilt auch für das Scheitern von Produktinnovationen, das viele Ursachen haben kann. Tina Müller, die neue Marketing-Chefin von Opel, und Marketing-Professor Hans-Willi Schroiff haben die wichtigsten Gründe in einem Buch (Warum Produkte floppen) zusammengetragen.

Ein neues Buch zu einem altbekannten Problem zu schreiben ist keine besonders innovative Idee. Aber wenn es stimmt, dass 60 bis 80 Prozent der neu eingeführten Produkte floppen, wie Müller in einem Interview behauptet (http://www.handelsblatt.com/unternehmen/it-medien/opel-managerin-mueller-innovation-ist-jeden-tag/8953402.html), dann ist das Thema zweifellos relevant. Und Relevanz für die Zielgruppe ist neben der Einzigartigkeit ein wesentliches Kriterium für erfolgreiche Produkte oder Innovationen. Wobei von erfolgreichen Innovationen zu sprechen eigentlich ein Pleonasmus ist: Nach Joseph Schumpeter ist Innovation nämlich nicht die Erfindung, sondern die Durchsetzung einer technischen oder organisatorischen Neuerung. Was sich nicht durchsetzt bzw. keinen Erfolg hat, ist also keine Innovation.

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Paradoxerweise ist der Erfolg (von Innovationen) zugleich ein Floprisiko, weil sich erfolgreiche Organisationen scheuen, Dinge anders zu machen, während sich die Welt um sie verändert. Deshalb laufen gerade erfolgreiche Unternehmen laut Müller Gefahr, den Zug zu verpassen. Sie ruhen sich gewissermaßen auf ihren innovativen Lorbeeren aus und versuchen sie, durch schrittweise Neuerungen frisch zu halten, statt den nächsten Innovationssprung zu wagen. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele: Marktführer Nokia hat den Trend zum Smartphone regelrecht verschlafen und Sony war mit dem Walkman so erfolgreich, dass das Unternehmen das Potential des MP3-Formats für die Geschäftsmodellinnovation übersehen hat.

Für die konstant hohen Flopraten gibt – wie gesagt – viele Ursachen. Die meisten Fehler werden schon in der Konzeptphase gemacht, wie Müller sagt, aber selbst ein relevantes und einzigartiges Produkt kann scheitern, wenn es nicht mit der Markenstrategie harmoniert oder das Unternehmen die falsche Vertriebs- und Marketingstrategie wählt. Und dann gibt es Produkte, die im Test begeistern, und trotzdem im Markt floppen, weil die Konsumenten Kaufentscheidungen nicht unbedingt rational treffen. Deshalb sind die Unternehmen ja so daran interessiert, unsere Big Data-Spuren in Internet und Sozialen Medien auszuwerten, um uns auf die Schliche zu kommen.

Eine Frage bzw. die Antworten fand ich aus PLM-Sicht besonders interessant, weshalb ich sie hier wörtlich zitiere. Was wichtiger sei, die Anzahl der Produktideen oder die Qualität des Innovationsmanagements?

Müller: Unternehmen brauchen am Anfang des Innovationsprozesses, bevor sie über das Konzept sprechen, rund 1000 Ideen, damit überhaupt irgendwas dabei ist, was sich lohnt weiterzuentwickeln. Wenn diese erste Stufe, die mehr auf Quantität geht, durchlaufen ist, dann muss es in einem recht engen und strukturierten Innovationsprozess weitergehen, weil sonst noch viel mehr Fehler gemacht werden. Das heißt, die Qualität des Innovationsmanagements ist genau so wichtig wie die Breite der Ideen im Anfangsstadium.

Schroiff: […] ohne diese 1000 Ideen hätte man nicht die zehn, die am Ende des Tags das Zünglein an der Waage für den Erfolg sind. Es ist ganz wichtig, dass die Leute nicht denken, ich muss jetzt mal zehn gute Ideen bekommen. Nein. Sie brauchen diese 1000 Ideen und die müssen immer weiter geschmiedet werden. Es ist nicht richtig, einmal im Jahr eine Woche über Innovationen nachzudenken. Innovation ist jeden Tag. Wenn man das nicht lebt und als Kultur verankert, wird es schwierig mit kontinuierlichen Innovationen. Deshalb braucht man einen ständigen Nachstrom an Ideen, um sagen zu können, das machen wir nicht. (Quelle: Handelsblatt online, 28.10.2013)

Das heißt mit anderen Worten, dass die Unternehmen einerseits einen konstanten Strom von Ideen produzieren müssen, was in erster Linie eine Frage der Innovationskultur ist. Auf der anderen Seite müssen sie die Tausend Ideen erfassen, mit Blick auf ihre Innovationsstrategie bewerten und die richtigen zehn herausfiltern, um sie in (hoffentlich erfolgreiche) Innovationen umzusetzen. Dabei kann PLM wertvolle Hilfe leisten, vorausgesetzt die Lösung unterstützt den Innovationsprozess von der strategischen Produktplanung über die Konzeption bis zur Abwicklung von Entwicklungsprojekten durch ein leistungsfähiges Innovationsmanagement.