Die Stückliste bleibt auf der Tagesordnung

Das ProSTEP iViP Symposium jagt von Rekord zu Rekord. Mit über 550 Teilnehmern und 33 Ausstellerfirmen war die diesjährige Veranstaltung im ICS in Stuttgart noch besser besucht als die des Vorjahres in Berlin, die erstmals die Schallmauer von 500 Ausstellern und Besuchern durchbrach. Obwohl oft als „Familientreffen“ der technischen IT-Experten aus Automobil- und Flugzeugindustrie bezeichnet, waren mehr als die Hälfte der Teilnehmer zum ersten Mal dabei. Das liegt nicht nur an der allmählichen Verjüngung der IT-Mannschaften (Frauen sind immer noch deutlich unterrepräsentiert), sondern auch daran, dass es dem Verein durch gezielte Werbekampagnen insbesondere in Japan gelungen ist, den Anteil der ausländischen Besucher zu steigern. Vertreter aus 19 Ländern nahmen in diesem Jahr am Symposium teil.

Mit freundlicher Genehmigung von Ralf Kopp
Mit freundlicher Genehmigung von Ralf Kopp, ProSTEP iViP

Die Organisatoren versuchen außerdem, die Veranstaltung durch den Brückenschlag von der virtuellen Produktentwicklung zum Digital Manufacturing thematisch breiter aufzustellen und auch dadurch neue Interessenten anzulocken. Das spiegelt sich allerdings noch nicht in der Zusammensetzung der Besucherschaft wider, die nach wie vor sehr Engineering-orientiert ist. Beherrschendes Thema war in diesem Jahr das Smart (Systems) Engineering als Antwort auf die Herausforderung des Internets der Dinge (IoT), das heißt die Vernetzung von Fahrzeugen und anderen Produkten über das Internet und die daraus resultierenden neuen Serviceangebote und Geschäftsmodelle. Da war Hauptsponsor Bosch natürlich in seinem Element.

Bei so vielen Hype-Themen war ich angenehm überrascht, auch die gute alte Stückliste bzw. die Diskussion über die Hoheit der BOM (Bill of Material) auf der Tagesordnung zu finden. Bodenständige Kost, aber vom Feinsten, so wie überhaupt die Verköstigung in diesem Jahr ausgezeichnet war. Den Auftakt machten die Vertreter des brasilianischen Flugzeugherstellers Embraer, die ihre IT-Systemlandschaft unter anderem deshalb um das PLM-System Windchill ergänzt haben, um Konstruktionsstückliste, pardon eBOM, und Fertigungsstückliste unabhängig voneinander managen und ändern zu können.

Mit freundlicher Genehmigung von Beyond PLM
Mit freundlicher Genehmigung von Oleg Shilovitsky, Beyond PLM

PLM-Experte Oleg Shilovitsky, dessen Blog Beyond PLM ich an dieser Stelle zur Lektüre empfehle, verteidigte in seiner Keynote hingegen die Vision einer einheitlichen, über die Systemgrenzen von PLM und ERP hinweg synchronisierbaren BOM. Leider seien die Unternehmen nicht  „ready for a single BOM“. Eine Position, die übrigens auch von PLM-Papst Prof. Martin Eigner geteilt wird, der in der Fragerunde den Konstrukteuren empfahl, in den Strukturen der mBOM denken zu lernen. Wen wundert es, dass die Stückliste beim anschließenden Get Together Gegenstand angeregter Diskussionen war.

Bei allem Respekt vor Martin Eigner und Oleg Shilovitsky bin ich der Ansicht, dass die Idee einer Art Einheitsstückliste zumindest nicht für alle Unternehmen eine tragfähige Lösung darstellt. Dies umso mehr als smarte Produkte und neue IoT-basierte Geschäftsmodelle dazu führen werden, dass diese BOM nicht mehr nur die Sichten von Mechanik-Konstrukteuren und Fertigungsplanern, sondern auch von Elektrik/Elektronik-Entwicklern, Software-Programmierern und Serviceleuten harmonisieren müsste. Die Abstimmung zwischen den beteiligten Disziplinen stelle ich mir beliebig komplex vor. Statt einer Einheitsstückliste brauchen die Unternehmen meines Erachtens ein einheitliches System, in dem sie verschiedene Sichten bzw. Stücklisten-Strukturen  verwalten und bei Änderungen konsistent halten können.

Die Entscheidung, welches System das sein soll, muss jedes Unternehmen selber treffen – in Abhängigkeit von der Multi-BOM-Fähigkeit der eingesetzten PLM-, ERP- oder vielleicht sogar anderer IT-Systeme. Instruktiv war in dieser Hinsicht der Vortrag der Faymonville S.A. auf dem Symposium, die ihre Schwerlasttransporter zum Teil kundenspezifisch entwickelt, zum Teil aber auch aus einem Baukastensystem auftragsspezifisch konfiguriert. Um den Configure-to-Order-Prozess besser zu unterstützten, hat das Unternehmen die Fertigungsstückliste zu 150% in ihrem PLM-System abgebildet. Auch bei Embraer wird die mBOM zunächst im PLM-System angelegt und dann erst an das ERP-System repliziert.

Vielleicht ein Paradigmenwechsel? Es würde mich interessieren, was Sie über das Thema denken.

Industrie 4.0 braucht smarte Produkte

Die vierte industrielle Revolution kann die Produktivität der deutschen Wirtschaft bis zum Jahr 2025 um mindestens 78 Milliarden Euro steigern. Das behauptet eine Untersuchung, die das Fraunhofer IAO im Auftrag des Hightech-Verbands BITKOM durchgeführt hat (als PDF downloaden). Die Betonung liegt auf dem Wörtchen „kann“: Es handelt sich nicht um eine statistisch abgesicherte Prognose, sondern um die Einschätzung des Wachstumspotentials in ausgewählten Branchen durch verschiedene Branchenexperten.

Für die erfolgreiche Umsetzung von Industrie 4.0 müssen eine Reihe von Voraussetzungen technischer, organisatorischer und normativer Natur gegeben sein – so die Studie. Eine Revolution, die Normen voraussetzt, statt sie außer Kraft zu setzen? Das ist wieder mal typisch deutsch, möchte man spotten. Kein Wunder, dass hierzulande noch jede Revolution gescheitert ist, geschweige denn dass wir je eine Revolution erfolgreich exportiert hätten. Wir erlauben Revolutionären allenfalls die Durchreise in plombierten Waggons, damit sie andernorts umstürzlerisch tätig werden. Und dass sich Angela Merkel als deutsche Jeanne d‘ Arc an die Spitze dieser Umsturzbewegung stellt, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Das ist ungefähr so als wäre Louis XVI im Juli 1789 auf den Balkon von Versailles getreten und hätte zum Sturm auf die Bastille aufgerufen.

Quelle: Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0 von acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften e.V.

Wenn ich, was die Erfolgsaussichten von Industrie 4.0 anbelangt, skeptisch bin, dann aber aus einem anderen Grund: Das von der Bundesregierung initiierte Zukunftsprojekt oder das, was davon bislang an die Öffentlichkeit dringt, ist für meinen Geschmack viel zu einseitig auf die Produktion d.h. die intelligente Vernetzung der Fertigungs- und Logistikprozesse fokussiert. Da sind wir in Deutschland eigentlich ganz gut aufgestellt. Die intelligente Fabrik ist zweifellos wichtig, weil wir aufgrund der Individualisierung unserer Produkte bei kleiner werdenden Stückzahlen hohe Anforderungen an die Flexibilisierung der Produktionsprozesse haben. Aber sie reicht nicht aus. Was nutzt uns eine noch so intelligente Fabrik, wenn wir darin dumme Produkte fertigen, die keiner mehr haben will?

Prof. Martin Eigner, einer der Autoren des bei acatech veröffentlichten Diskussionspapiers zum Thema Smart Engineering (als PDF downloaden), hat das in einem Gespräch am Rande des ProSTEP iViP-Symposiums neulich auf den Punkt gebracht: „Ohne intelligente Produkte gibt es keine Industrie 4.0. Unser Problem in Deutschland ist nicht die Fertigung, sondern dass wir dafür neue Produkte und Geschäftsmodelle generieren müssen.“

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich finde es begrüßenswert, dass die vierte industrielle Revolution mit Forschungsgeldern in Milliardenhöhe gefördert wird. Nur befürchte ich, dass viele dieser Gelder in die falschen Projekte investiert werden. Industrie 4.0 tut nämlich den zweiten Schritt vor dem ersten: Bevor wir uns darüber Gedanken machen, wie sich Produkte intelligenter fertigen lassen, sollten wir uns erst einmal überlegen, wie wir es schaffen, smartere Produkte zu entwickeln. Produkte, die über das Internet of Things (IoT) miteinander kommunizieren und dadurch neue Dienstleistungsangebote und Geschäftsmodelle ermöglichen. Das ist der Denkansatz, den die Amerikaner verfolgen. Mit wie viel Intelligenz diese smarten Produkte dann gefertigt werden, wird auch davon abhängen, wo auf der Welt die Fertigung angesiedelt ist. Ich glaube nämlich nicht, dass es uns dank noch so intelligenter Fabriken gelingen wird, beispielsweise die Handy-Fertigung nach Europa zu holen. Je mehr Varianz in einem Produkt über die Software abgebildet werden kann, desto einfacher lassen sich die mechanischen Komponenten in Großserie fertigen und montieren. Und dafür muss eine Fabrik nicht besonders schlau sein.

Das IoT bedeutet eine große Herausforderung für die Innovationsfähigkeit der Unternehmen. Sie müssen in der Lage sein, komplexe mechatronische Systeme zu entwickeln, die über das Internet miteinander kommunizieren. Und sie müssen diese cyberphysischen Systeme um innovative Dienstleistungen ergänzen, die gegebenenfalls ihre bestehenden Geschäftsmodelle in Frage stellen. Dafür benötigen sie einerseits leistungsfähige Werkzeuge und Methoden für die interdisziplinäre Produktenwicklung und für ein systematisches Innovationsmanagement; andererseits müssen sie ihre Innovations- und Entwicklungsprozesse neu strukturieren.

Wenn die vierte industrielle Revolution nicht im Engineering ansetzt, wo meines Erachtens der größere Handlungsbedarf besteht, ist sie zum Scheitern verurteilt. Dann wird Industrie 4.0 ebenso schnell wieder vergessen sein wie die selige CIM-Philosophie vor 30 Jahren. Hier für Nostalgiker zur Erinnerung noch mal die CIM-Definition der Society of Manufacturing Engineers (SME): CIM is the integration of total manufacturing enterprise by using integrated systems and data communication coupled with new managerial philosophies that improve organizational and personnel efficiency. Das ist nicht weit von der Idee der digitalen Fabrik entfernt. Nur dass es das Internet als Plattform für ihre Vernetzung damals noch nicht gab. Aber genau wie damals fehlen auch heute wieder die Standards. Ohne solche Standards – so die eingangs erwähnte BITKOM-Studie – ist die freie, problemlose Austauschbarkeit von Industrie 4.0-Komponenten nach dem Prinzip des „Plug and Produce“ nicht denkbar.