Deutschen Ingenieuren wird oft vorgeworfen, dass sie zum Over Engineering neigen. Leider nicht ganz zu Unrecht. Das ist aber nicht allein ihre Schuld, sondern auch die ihrer Vorgesetzten (meist selber Ingenieure), die nicht immer in der Lage sind, den ihren Mitarbeiter in die Ingenieurswiege gelegten Kreativtrieb zu bremsen oder wenigstens in die richtigen Bahnen zu lenken. (Oh, ich sehe schon, dass ich mir mit diesem Blogbeitrag keine Freunde machen werde:-)).
Deutsche Unternehmen, die zum Beispiel eine einfache (und kostengünstige) Produktvariante für den asiatischen Markt entwickeln wollen, überlassen das nicht selten ihren polnischen oder tschechischen Ingenieuren. Und das nicht etwa deshalb, weil die weniger kosten (das natürlich auch), sondern weil sie eher in der Lage sind, sich weniger komplexe Lösungen auszudenken. Manchmal werden diese Produkte sogar reimportiert, weil die Unternehmen plötzliche entdecken, dass es auch in unserer entwickelten Welt Bedarf für einfache und preisgünstige Lösungen gibt. Die Amerikaner nennen diesen Trend Reverse Innovation.
Natürlich muss man zur Verteidigung der westlichen Welt und ihrer Ingenieure sagen, dass sie letztlich nur das entwickeln, was wir als (deutsche) Konsumenten für teures Geld zu kaufen bereit sind. Vielleicht sollte ich die Klammer weglassen, denn ich bin der festen Überzeugung, dass Phänomene wie die Mass Customization, das heißt die kundenindividuelle Konfiguration (wenn nicht gleich Entwicklung) von in Serie zu fertigenden Produkten, eigentlich eine Erfindung deutscher Ingenieure ist. So wie übrigens auch die deutsche Antwort auf die damit verbundene, fertigungstechnische Herausforderung: Industrie 4.0.
Beweise? Fragen Sie doch mal bei einem der deutschen Premium-Automobilhersteller nach, ob er nordamerikanischen oder asiatischen Kunden die gleichen Konfigurationsmöglichkeiten für seine Fahrzeuge einräumt wie seinen deutschen Kunden? Pustekuchen. Da wird oft schon der langen Lieferzeiten wegen mit vorkonfigurierten Paketen gearbeitet.
Richtig ist aber, dass die Ingenieure in kaum einer Branche so kreativ sein dürfen wie in der globalen Automobilindustrie. Trotz modularer Längs- und Querbaukästen und anderer Anstrengungen zur Eindämmung der Variantenvielfalt werden viele Dinge in einer zumindest für Laien unfassbar großen Varianz entwickelt, was den allseits bekannten Rattenschwanz an Kosten für Fertigung, Einkauf, Lagerhaltung und Verwaltung der eigentlich redundanten Teile nach sich zieht.
Ein schönes Beispiel dafür habe ich neulich beim Besuch eines bekannten Herstellers von Kabelbindern und -befestigungssystemen entdeckt. Das Unternehmen hat einen innovativen Befestigungsclip für Kabelsätze entwickelt, der in ovale Löcher unterschiedlicher Größe in unterschiedlichen Fahrzeugmarken und -modellen passt. Warum, fragte ich mich, müssen die Löcher für die Befestigungen der Kabelsätze eigentlich unterschiedlich groß sein? Könnte man sich da nicht auf einen Standard einigen oder – besser noch – einfach die Vorgaben der Verkabelungsspezialisten übernehmen? Die wissen doch am besten, welche Kräfte so eine Befestigungssystem aushalten muss. Aber nein, es muss eine kundenindividuelle Lösung sein.
Möglicherweise liegt es daran, dass die Ingenieure nicht wissen, welche Lösungen es von der Stange gibt und wie viel Geld sie durch ihre Verwendung sparen könnten. Und wie viel Zeit, denn geprüfte Komponenten müssen nicht mehr aufwendig abgesichert werden, bevor sie verwendet werden können. Dazu bräuchten sie aus ihrem PLM-System heraus den Zugriff auf leistungsfähige Bauteil-Bibliotheken, in denen sie anhand technischer Parameter die passenden Kaufteile suchen und am besten gleich verbauen können. Und die sie auch darüber informieren, welche ähnlichen Komponenten auf Lager sind und alternativ verbaut werden könnten. Solche Bibliothekssysteme gibt es zwar, aber sie werden offensichtlich noch zu wenig genutzt. Sonst müssten sich die Ingenieure das Leben nicht so schwer machen.