PLM muss große und kleine Fische unterstützen

Von PLM-Lösungen für den Mittelstand zu sprechen, verleitet leicht zu falschen Schlüssen. Mittelständische Unternehmen haben grundsätzlich die gleichen PLM-Anforderungen wie Großunternehmen, denn sie entwickeln ähnlich komplexe Produkte, meist in einer riesigen Zahl kundenspezifischer Ausprägungen. Sie sind als Zulieferer in komplexe globale Wertschöpfungsketten eingebunden und haben oft selbst Entwicklungs- oder zumindest Fertigungsstandorte in anderen Ländern. Und sie müssen in aller Regel dieselben Qualität- und Compliance-Anforderungen erfüllen wie ihre Auftraggeber. Deshalb brauchen sie keine funktional abgespeckten PLM-Lösungen, die sich im wesentlichen auf CAD-Daten- und Dokumenten-Management und vielleicht ein paar  Workflows beschränken, sondern das volle PLM-Programm. Nicht von ungefähr haben einige PLM-Hersteller ihre schnell geschnürten Mittelstandspakete wieder in der Versenkung verschwinden lassen.

bigfishNatürlich gibt es Unterschiede. Mittelständische Unternehmen haben normalerweise keine großen IT-Abteilungen, die ein monatelanges PLM-Projekt unterstützen können. Die Implementierung liegt meist in den Händen junger, engagierter Mitarbeiter aus den Fachabteilungen, die über wenig Erfahrung im Projekt- und Change-Management verfügen. Dafür sind, im Unterschied zu Großunternehmen, die Mauern zwischen den Abteilungen weniger hoch, so dass sich abteilungsübergreifende Prozesse einfacher reorganisieren lassen. Und die Geschäftsleitung ist erfreulich oft nahe am PLM-Projektgeschehen und stärkt dem Projektteam in kritischen Phasen den Rücken.

Was bedeutet das nun für die PLM-Hersteller und Ihre „Mittelstandslösungen“? Zunächst einmal brauchen sie kompetente Mitarbeiter mit Projekterfahrung, die den Kunden bei der Umsetzung der Projektschritte beraten und unterstützen und gegebenenfalls sogar die (Co-)Projektleitung übernehmen können. Agilität ist die Stärke des Mittelstands – das muss auch für das Projektmanagement gelten. Voraussetzung ist natürlich ein PLM-System das von der Software-Architektur und den Entwicklungswerkzeugen ein agiles Vorgehen bei der Implementierung zulässt.

Vorkonfigurierte Lösungen haben den Vorteil, dass sie sich schnell ausrollen lassen. Aber dieser Vorteil darf nicht durch mangelnde Flexibilität erkauft werden. Natürlich kann es zweckmäßig sein, die Prozesse im Zuge der PLM-Implementierung auf den Prüfstand zu stellen, aber wenn es sich um erprobte Prozesse handelt, die vielleicht sogar einen Vorsprung des Unternehmens im Wettbewerb ausmachen, muss die Software diese Prozesse abbilden können.

Was den Funktionsumfang anbelangt, so ist eine modulare Plattform mit Basisfunktionalität und ergänzenden Anwendungsmodulen die beste Gewähr für eine skalierbare PLM-Installation, die mit den Anforderungen des Unternehmens wachsen kann. Die Möglichkeit, Funktionalität nachzurüsten, beschleunigt den Rollout und verkürzt den ROI. Ich habe in den letzten Monaten verschiedene Unternehmen besucht, die das Projektmanagement zunächst nur als Struktur für eine projektorientierte Ablage der Daten und Dokumente produktiv genutzt haben, um erst im zweiten Schritt ein umfassendes Projektmanagement mit Terminverfolgung, Kostenkontrolle und Aufwandserfassung zu implementieren. In einigen Fällen werden inzwischen sogar Vertriebsprojekte im PLM-System angelegt, so dass der gesamte Produktentstehungsprozess von der Angebotsphase bis zur Auslieferung durchgängig unterstützt wird.

Interessanterweise sieht man solche umfassenden PLM-Implementierungen häufiger im Mittelstand als bei Großunternehmen. Das wiederum hängt meiner Einschätzung nach mit den flacheren Strukturen zwischen den Abteilungen und der größeren Aufmerksamkeit des Managements für das PLM-Thema zusammen. Wenn sich mittelständische Unternehmen für eine PLM-Implementierung entscheiden, werden die Projekte in aller Regel sehr konsequent durchgezogen. In diesem Sinne würde man sich mehr „Mittelstandslösungen“ bei Großunternehmen wünschen.

PLM-Einführung ist ein Mannschaftssport

Man sollte meinen, dass die PLM-Einführung dank vorkonfigurierter Software-Lösungen und standardisierter Middleware-Technologie für die Integration der Anwendungen einfacher geworden sei. Wenn man einigen Herstellern glauben darf, funktionieren ihre Lösungen sozusagen out of the box, das heißt man braucht sie nur noch auszupacken und einzuschalten. Leider sieht die Realität anders aus: „Der Leidensdruck hat eher noch zugenommen“, urteilte Prof. Martin Eigner der auf dem diesjährigen PROSTEP iViP-Symposium einen Workshop zum Thema „Future PLM“ koordinierte. Im Rahmen dieses Workshops wurden die Teilnehmer aus der Automobil- und Luftfahrtindustrie befragt, wo sie der Schuh am meisten drückt: Ein wunder Punkt ist und bleibt die Implementierung, das heißt die vielen Systeme, Schnittstellen, Migrationen oder Inkompatibilitäten.

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Der Grund für den scheinbaren Widerspruch ist relativ simpel: Zwar lassen sich die PLM-Lösungen heute einfacher und schneller implementieren, aber gleichzeitig haben Umfang und Komplexität der Implementierungen deutlich zugenommen, weil die Lösungen mehr leisten und mehr leisten sollen als noch vor zehn Jahren. Die Kunden sind anspruchsvoller geworden: Es geht nicht mehr nur ein bisschen lokale CAD-Datenverwaltung, sondern um die Unterstützung des gesamten Entwicklungsprozesses unter Einbeziehung verschiedener Disziplinen (Stichwort Mechatronik-Entwicklung), Standorte und gegebenenfalls auch der externen Partner. Das untermauern die anspruchsvollen PLM-Projekte, die heute in der Industrie realisiert werden.

Vor kurzem habe ich einen renommierten Automobilzulieferer besucht, der gerade seine alte Zeichnungsverwaltung durch eine umfassende PLM-Lösung ersetzt hat. Multi-CAD-Datenmanagement, Stammdatenverwaltung mit ERP-Anbindung, Dokumentenmanagement mit Office- und Email-Integrationen, Projektverwaltung, Freigabe- und Änderungswesen etc. wurden auf einen Schlag an mehreren Standorten weltweit eingeführt, weil die Anwender bei vielen Projekten standortübergreifend zusammenarbeiten. Ein riesiger Berg an CAD-Daten und anderen Unterlagen musste dazu in die neue PLM-Umgebung übernommen werden, was natürlich mehr Zeit in Anspruch nahm als geplant. Der Aufwand für die Datenmigration wird bei PLM-Implementierungen immer noch gerne unterschätzt.

PLM-Projekte dieser Größenordnung mit Beteiligten aus unterschiedlichen Abteilungen, Standorten und Ländern und Kulturkreisen erfordern ein effizientes Projektmanagement, um sie erfolgreich umzusetzen. Der Zusammenhalt des Projektteams, der Rückhalt im Management und die kompetente Unterstützung durch den Systemlieferanten sind wichtige Erfolgsfaktoren. Als ich den Projektleiter fragte, was er beim nächsten Mal anders machen würde, sagte er, er würde es stärker in Teilprojekte mit separaten Projektverantwortlichen unterteilen, um die parallel laufenden Aktivitäten besser koordinieren zu können. Und er würde die ausländischen Kollegen noch frühzeitiger ins Boot holen. Ein gut funktionierendes Team ist für den Projekterfolg fast wichtiger als die beste Software, so einfach sie auch zu implementieren sein mag. Und der gemeinsame Erfolg stärkt das „Wir-Gefühl“ im Unternehmen – über die PLM-Implementierung hinaus.