Die Zeichnung ist nicht tot zu kriegen

Ich stimme meinem geschätzten Blogger-Kollegen Ralf Steck zu, der sich in seinem Beitrag zum Thema Model Based Definition (MBD) unlängst über die Ankündigung von Funktionen wundert, die er längst im Einsatz wähnte. Mir ging es vor ein paar Tagen ähnlich, als ich mit einen renommieren Hersteller von Antriebssträngen über die nächsten Schritte auf seiner PLM-Roadmap sprach und er das Thema MBD erwähnte. Man sollte nach 25 Jahren 3D-CAD-Einsatz meinen, dass sich die Unternehmen von der guten alten 2D-Zeichnung längst verabschiedet haben. Pustekuchen!

Steck nannte zwei wesentliche Gründe, warum die Zeichnung nicht sterben will. Eigentlich sind es sogar drei: „Zum einen ist die Zeichnung in vielen Fällen ein Vertragsbestandteil, beispielsweise zwischen Lieferant und Kunde, oder sie wird zum Archivieren genutzt. Der zweite [bzw. dritte] Grund sind die zusätzlichen Informationen, die heute sehr selten im 3D-Modell hinterlegt werden können: Form- und Lagetoleranzen, Oberflächenbeschaffenheit, Fertigungs- und Verarbeitungsanweisungen oder auch Kommentare.“

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Mit freundlicher Genehmigung Mister GC, www.FreeDigitalPhotos.net

Wenn man von der Archivierung einmal absieht, die im wesentlichen eine Frage der langzeitfähigen Datenformate und Speichermedien ist, sind die im 3D-Modell fehlenden Zusatzinformationen der Hauptgrund für die Unsterblichkeit der 2D-Zeichnung. Denn dass sie bei der Vergabe von Fertigungsaufträgen an Zulieferer immer noch Vertragsbestandteil ist, liegt vor allem daran, dass nicht alle fertigungsrelevanten Informationen zuverlässig in 3D kommuniziert werden können.

Ich würde aber noch einen weiteren Grund dafür anfügen, dass die 2D-Zeichnung nicht totzukriegen ist: In den meisten Unternehmen gibt es nur sehr rudimentäre Möglichkeiten, außerhalb der Produktentwicklung mit den 3D-Modellen zu interagieren. Visualisierungsfunktionen stehen längst nicht an jedem Arbeitsplatz zur Verfügung, weil die entsprechenden 3D-Viewer relativ kostspielig sind. Außerdem sind sie in aller Regel nicht gut genug in die PLM-Prozesse integriert, um beispielsweise Kommentare mit der kommentierten Modellversion in der PLM-Datenbank abspeichern zu können.

Es reicht deshalb meines Erachtens nicht aus, wenn die CAD-Hersteller sich des Themas annehmen und ihre Software um MBD-Funktionen ergänzt. Eine Sache ist nämlich die Anreicherung der 3D-Modelle mit Informationen, die man normalerweise auf der Fertigungs-, Montage- oder Prüfzeichnung findet. Eine andere die Kommunikation der angereicherten 3D-Modelle innerhalb des Unternehmens und in der Zulieferkette. Hier sind auch die PLM-Hersteller gefordert.

Gerade die Erfassung und Weitergabe von qualitätsrelevanten Informationen in den Unternehmen ist immer noch durch viele Medienbrüche gekennzeichnet, so dass die Papierzeichnung für die Mitarbeiter in der Qualitätssicherung fast unverzichtbar ist. Es macht aber meines Erachtens wenig Sinn, die fertigungsrelevanten Informationen am 3D-Modell zu kommunizieren, solange für die Kommunikation von Prüfmaßen und anderen Informationen für den Qualitätsprozess dann doch wieder Zeichnungen erstellt werden müssen.

Die Zuverlässigkeit der 3D-Kommunikation ist der Schlüssel zur zeichnungslosen Fertigung, Montage, Qualitätssicherung etc. Nur wenn gewährleistet ist, dass bei der Konvertierung und Weitergabe der 3D-Modelle keine Informationen verloren gehen oder verfälscht werden können, werden Hersteller und Zulieferer sie als Vertragsgrundlage akzeptieren. Ein Beispiel mag die Problematik verdeutlichen: Ein Hersteller von Karosserieteilen, den ich vor einiger Zeit besuchte, definierte die Oberflächenbeschaffenheit durch Farbkodierungen am 3D-Modell. Bei Änderungen stellte er seinen Zulieferern Ansichten dieser Modelle in einem Neutralformat zur Verfügung. Dabei zeigte sich, dass die Farben in den abgeleiteten Modellen nicht immer korrekt dargestellt wurden. Man hatte also keine Gewähr, dass hinterher die Qualität der Oberflächen stimmte.

Die 3D-Kommunikation muss nicht nur zuverlässiger, sondern auch einfacher und intuitiver werden. Ein guter Ansatz, 3D-Modelle an möglichst jedem Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen, erscheint mir die Integration von 3D-Visualisierungsfunktionen in die  PLM-Systeme. Sie bietet zum Beispiel die Möglichkeit, nicht-geometrische Informationen wie Materialien oder den Freigabestatus eines Bauteils am 3D-Modell zu veranschaulichen. Eine offene Frage ist allerdings, wie diese mit PLM-Informationen angereicherten Modelle geltungsgesichert in der Zulieferkette bereit gestellt und archiviert werden können. Hier gilt das eben Gesagte: Wenn die Zuverlässigkeit nicht gegeben ist, wird sich niemand darauf verlassen wollen.

Der Unterschied zwischen Software und erfolgreicher Software?

Mountain landscape with snow and clear blue sky

Die Einführung von neuer Software ist in aller Regel kein Selbstzweck. Die Treiber in den Unternehmen verfolgen konkrete Ziele rund um wichtige Kenngrößen wie Zeit, Kosten und Qualität. Ein gutes Change Management dient dann dazu, die Fachbereiche und Mitarbeiter von diesen Zielen zu überzeugen und sie zu motivieren und „mitzunehmen“.

Unsere Erfahrungen und die vieler anderer Software-Anbieter und Berater zeigen: entscheidend ist außerdem, wie ein neues Werkzeug überhaupt eingesetzt werden soll: als bloßer Ersatz im Rahmen von ansonsten unveränderten Strukturen und Arbeitsweisen, oder – besser – mit dem Ziel, die Potenziale der Werkzeuge möglichst optimal zu nutzen, auch wenn dies weitergehende Veränderungen bestehender Arbeitsweisen erfordert.

Der sehr lesenswerte Beitrag von Stefan Thomke „High-Tech Tools Won’t Automatically Improve Your Operations“ in der Online-Ausgabe von Harvard Business Review geht diesem Aspekt nach. Er schreibt:

While it is encouraging to see this rapid progress, tools — no matter how advanced — do not automatically confer benefits on organizations. They must be integrated into systems and routines that are already in place. Tools are embedded within the organizations that deploy them as well as the people that use them. When integrated incorrectly, they can actually inhibit performance.

Ein nettes Bild von Thomke bringt die Sache auf den Punkt. Ein Ferrari hilft mir nicht, schneller zur Arbeit zu kommen, solange ich mich nicht um eine andere Route abseits der üblichen Staus kümmere. Zudem liefert Thomke anschauliche Beispiele auch aus dem Bereich der Produktentwicklung mit.

Change Management ist in seiner Substanz also nicht nur gutes Projektmarketing, sondern ist weit mehr als das. Es geht um die oft substantielle Veränderung der eigenen, bisherigen Arbeitsweise und dem Aufbau des Vertrauens der Mitarbeiter darin, dass neue Arbeitsweisen verlässlich funktionieren und tatsächlich die konkreten Vorteile bieten, die auf den PowerPoint-Folien angepriesen wurden. Je größer die Unterschiede sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine solche Veränderung mehr Zeit und mehr aufeinander folgende Schritte benötigt.

Thomke: „Advanced tools can transform the way you run innovation and operations. But it’s the way you manage the tools and the people that use them that will unlock, or hold back, their potential”.

Brauchen smarte Produkte neue PLM-Systeme?

Auf dem jüngsten ProSTEP iViP-Symposium gab es eine interessante Podiumsdiskussion zum Thema Smart Engineering, in der hochkarätige Vertreter aus Wissenschaft und Forschung ziemlich offen die Immobilität der PLM-Hersteller angesichts der Herausforderung des Internet of Things (IoT) und der Entwicklung smart vernetzter Systeme kritisierten. O-Ton eines Teilnehmers: „Wir bräuchten Player mit neuen Ideen, die frischen Wind in den Markt bringen.“ Es fehle eine Art Google, der den ganzen PLM-Markt aufrolle, meinte ein andere. Welcher Hafer hat die denn gestochen?, dachte ich mir.

Einer der Vorwürfe an die Adresse der PLM-Hersteller, der aus dem Mund staatlich alimentierter und geförderter Wissenschaftler natürlich etwas befremdlich klingt, ist der, dass sie bei der Weiterentwicklung ihrer Systeme zu wenig in Vorleistung treten und immer nur das entwickeln, mit dem sich ziemlich unmittelbar Geld verdienen lässt. Abgesehen davon, dass Altruismus nicht unbedingt eines der Wesensmerkmale kapitalistischer Systems ist, halte ich den Vorwurf für nicht ganz zutreffend.

  • Erstens kenne ich den einen oder anderen PLM-Hersteller, der seine Software bereits um Module für Anforderungsmanagement, Funktionsmodellierung und andere Systems Engineering-Funktionen ergänzt hat, die sich nicht gerade verkaufen wie warme Semmeln.
  • Zweitens haben die wenigen Anwendervorträge zum Thema Systems Engineering auf dem Symposium einmal mehr deutlich gemacht, dass die Unternehmen immer noch in einer Findungsphase stecken und erst einmal klären müssen, was sie an IT-Unterstützung für die Entwicklung ihrer smarten Produkte benötigen. Ein Eindruck, der durch die Interviews bestätigt wird, die ich in den letzten Jahren zu dem Thema geführt habe.
  • Drittens wissen auch die Wissenschaftler noch nicht so genau, welche Partialmodelle aus der modellbasierten Entwicklung cyberphysischer Systeme mit welchen Informationen eigentlich ins PLM-System gehören. Sonst bräuchten wir ja wohl dotierte Forschungsprojekte wie mecPro2 nicht, die genau das herausfinden sollen.

Richtig ist natürlich, dass die PLM-Hersteller genauso wie ihre Kunden gefordert sind, sich mit den Auswirkungen des IoT auf ihre Geschäftswelt auseinanderzusetzen. Sie müssen ihr Lösungsangebot anpassen, um agilere und kontinuierlichere Entwicklungsprozesse zu unterstützen, wie Stan Przybylinski von der amerikanischen Markforschungsfirma CIMdata kürzlich in einem Webinar zum Thema „The Internet of Things – What does it mean for PLM“ betonte. Doch was heißt das konkret für die Entwicklung der PLM-Software? Muss sie künftig in der Lage sein, unstrukturierte Informationen zu verwalten oder Unmengen an Sensordaten zu analysieren? Ich glaube, dafür sind andere Anwendungen besser geeignet.

Das IoT verspricht Wachstum ohne Ende. Grafik: CIMdata Inc.
Das IoT bietet ein riesiges Wachstumspotential, vor allem für industrielle Anwendungen. Grafik: CIMdata Inc.

Hauptaufgabe der PLM-Systeme ist und bleibt die Unterstützung der Produktentwicklung. Das Problem ist nicht so sehr, dass diese Produkte immer mehr Elektronik und Software enthalten, die sich ständig ändert, sondern dass Elektronik und Software zunehmend genutzt werden, um Produkte mit anderen Produkten und Systemen zu vernetzen und ihren Lebenszyklus dadurch weit über den Start of Production hinaus zu verlängern. Im Sinne eines vollständigen Product Lifecycle Managements muss auch diese Phase systemseitig unterstützt werden.

Das wirkliche Produktleben lag für die Hersteller bislang auf der „dark side of the moon“, wie PTC-Chef Jim Heppelman sich einmal ausdrückte. Dieses Leben besser auszuleuchten, das heißt die Informationen aus dem Feld auszuwerten, in den Lifecycle einzusteuern und für die kontinuierliche Verbesserung der Produkte zu nutzen, das ist die riesige Chance des IoT und die wahre Herausforderung für die PLM-Hersteller. Es geht nicht um die Entwicklung oder Integration von noch ein paar Systems Engineering-Werkzeugen mehr, sondern um die Vernetzung der PLM-Systeme mit den IoT-Plattformen, auf denen diese Lifecycle-Informationen zusammenfließen.

Welche Plattformen das sein werden, ist noch ziemlich offen. Aber wenn man sich vor Augen hält, dass IBM mal eben schlappe drei Milliarden US-Dollar in den Aufbau einer eigenen IoT-Organisation investiert, kann man sich ungefähr ausmalen, welches Kaliber die Player in diesem Markt haben werden. Ein Markt über dessen Größe die aberwitzigsten Zahlen kursieren. Cisco sprich von 19 Billionen US-Dollar im Jahr 2020, McKinsey immerhin noch von 2,7 bis 6,2 Billionen. Einig sind sich alle Auguren, dass der größte Anteil davon auf die Fertigung entfallen wird: Vielleicht war das mit Industrie 4.0 doch keine so schlechte Idee.